„Weißt du, was Jasmin mir gestern Abend gesagt hat?“
Mit einem Augurenlächeln stand die schlanke, etwa 1,65 Meter große, blondmähnige Claudia vor mir. Kaum hatte ich die Eingangstür geöffnet, war sie in meine Wohnung gestürmt. Ich war perplex über diesem Überfall. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was die beiden Damen gestern besprochen haben könnten. Wie sollte ich auch. Aber mir war so, als wenn Claudia meinte, es müsse mich brennend interessieren. Eigentlich ließ ich den Klatsch eines Frauenschnattervereins nicht an mich herankommen. Aber jetzt wollte ich doch einmal nachfragen:
„Nun erzähl schon! Welche sensationellen Erkenntnisse brachte dir der gestrige Abend?“
Claudia frohlockte:
„Lästere nicht! Du wirst dich gleich hinsetzen wollen! Jasmin meinte nämlich, wenn die zwei Männer sich genau anders herum verliebt hätten, hätten sie beide glücklich werden können.“
Ich verstand sofort, wer mit „die zwei Männer“ gemeint war. Mein Freund Stefan und ich. Schweigend drehte ich mich um und ging in das Wohnzimmer. Dort erfüllte ich Claudias Prophezeiung und setzte mich auf den ersten erreichbaren Stuhl. Mein Blick ging starr zum Fenster hinaus. Claudia war mir gefolgte, noch immer mit dem triumphierenden Lächeln auf den Lippen. Sie setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl. So, dass sie mich beobachten konnte. Ich schwieg noch immer. Meine Gedanken kreisten um die jüngste Vergangenheit.
Ich hatte mich tatsächlich um Jasmin bemüht, hatte mir dabei aber eine ziemlich blutige Nase geholt. Aber auch Stefans Nase war sinnbildlich zerbeult worden. Er hatte bei seinen Bemühungen um Myriam genauso wenig Erfolg gehabt. Unsere Werbungen um unsere Herzensdamen waren glatt Wegs gescheitert. Jedoch wusste Claudia genau, was das pikante an dieser Geschichte war: Meine Herzensdame war eigentlich schon immer Myriam gewesen. Meine Erinnerungen glitten fünf Jahre zurück.
Die erste Begegnung
Es war spät im November und der Tag hatte sich schon in die Dunkelheit des Abends geneigt, als ich über den Hof in Richtung der Jugendräume ging. Bis zu meiner Veranstaltung hatte ich noch viel Zeit, aber ich wollte mich noch etwas vorbereiten. Heute sollte es losgehen. In Absprach mit meinem Freund Stefan, wollte ich, als ehrenamtlicher Mitarbeiter des Evangelischen Jugendwerkes, einen Teil, seiner bereits überalterten Jungschar übernehmen. Diese dann, in Anbindung an die Tradition des Jugendwerkes, in einen neuen Jungenkreis überführen. Diese Jugendarbeit geschah auch in enger Abstimmung mit der Kirchengemeinde, in der ich mich gerade befand.
Dies war aber nicht meine eigentliche Aufgabe, in dieser Gemeinde. Tatsächlich leistete ich hier gerade meinen Zivildienst ab. Somit gehörte ich zum dienstbaren Personal dieser Gemeinde, und leitete daraus eine gewisse Gewichtigkeit ab. Daher konnte es geschehen, dass ich zunächst etwas ruppig reagierte, als ich die Jugendräume erreichte.
Eigentlich erwartete ich niemanden vor Ort anzutreffen. Zu meinem Erstaunen stand dort an der kleinen Mauer vor den Jugendräumen eine Person. Viel konnte ich von ihr nicht erkennen, da sie mir den Rücken zuwandte. Nur die Tracht eines Pfadfinders vermochte ich in der Dunkelheit des Ortes erkennen. Es war aber nicht die mir vertraute dunkelblaue Kluft der Heliand-Pfadfinder. Nein, die Bekleidung war eher mittelblau, oder gar grau. Neugierig trat ich näher.
Sie schien mich kommen gehört zu haben. Denn sie wandte sich rasch ein wenig zu mir um. Gerade so, dass sie mich sehen konnte, aber auch die andere Seite im Blick behalten konnte. Ich schaute nun in ein hübsches, offenes Gesicht, umrahmt von vollen, mittelblonden Locken, die halblang auf die Schultern fielen. Sie schaute mich einen Atemzug lang mit ihren klaren blauen Augen an. Überrascht stellte ich ihr die Frage nach Ihrer Identität:
„Wer bist denn du?“
Den Bruchteil eines Momentes schien sie auf „verärgert“ schalten zu wollen. Doch dann entspannte sich ihr Gesicht und sie antwortete mir mit einer angenehm sanften Stimme:
„Hallo ich bin Myriam. Und wer bist du? Ein Poltergeist?“
Ich war leicht verlegen, durch diese Antwort und erwiderte ihr sehr viel freundlicher:
„Nein, kein Poltergeist. Ich bin Ted. Entschuldige, ich war nur überrascht, hier jemanden anzutreffen. Ich komme vom EJW und möchte hier heute Abend einen neuen Jungenkreis beginnen.“
„Ah, das ist schön. Das EJW hat hier schon eine ganze Weile keinen Jungenkreis mehr angeboten. Die Jugendarbeit in dieser Gemeinde liegt dadurch etwas brach.“
Sie kannte sich hier anscheinend sehr gut aus, das erstaunte mich. Aber verwundern sollte mich das nicht. Ich war zwar früher hier im Jungenkreis des Jugendwerkes, bevor ich Mitarbeiter geworden bin. Ich hatte aber eigentlich keine Ahnung von dieser Gemeinde, obwohl ich hier im Gemeindegebiet wohnte. Denn ich gehöre zur Katholische Kirche dieses Ortes. Als ZDL bekam ich von der Jugendarbeit vor Ort nicht viel mit. Daher fragte ich nun mit echtem Interesse:
„Was machst du hier in der Gemeinde?“
„Im Moment warte ich auf Inge, wir wollen uns treffen, um etwas vorzubereiten. Ich gehöre zum EMP und bin für dessen Jugendarbeit im Dekanat verantwortlich.“
„Hat das EMP etwas mit dem EJW zu tun? Ich kenne es gar nicht.“
Sie wandte sich nun vollends zu mir herum und schaute mich mit ihrem geraden, offenen Blick an. Ihr Gesicht hatte feine, etwas kantige Züge, die in einer leicht spitzen Form im Kinn zusammenliefen. Ihre Unterlippen bildeten eine fast gerade Linie, während ihre Oberlippen dezent gebogen waren. Die Nase erschien mir am ehesten von der Marke „Stups“ zu sein.
„Der Evangelische Mädchenpfadfinderinnen Bund ist ein eigenes Jugendwerk. Er hat aber insofern etwas mit dem EJW zu tun, da unsere Leiterin die Frau von eurem Vorsitzenden ist. Wir machen auch eine sehr ähnliche Arbeit.“
Ich merkte, dass sie nun sehr entspannt war und die Plauderei gerne fortsetzten wollte. Sie gab mir einen kleinen Überblick über ihre Arbeit in drei Gemeinden dieses Dekanats. Ich erzählte ihr von meinem Zivildienst in dieser Gemeinde und von der Jugendarbeit, die ich starten wollte.
Es wurde noch zu einem richtig heiteren Gespräch, bis dann Inge kam und Myriam sich ihrer Aufgaben widmen musste.
„Ich wünsche dir viel Erfolg. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“,
wünschte sie mir zum Abschied.
Ich stand noch eine ganze Weile da und starrte dieser, etwa gleichaltrigen jungen Dame hinterher. Auch als sie schon längst weg war, schaute ich auf den Punkt, der sie meinem Blick entzogen hatte. Ein angenehm warmes Gefühl legte sich über meinem Bauch. Meine Gedanken überschlugen sich und wollten sich überhaupt nicht mehr klären. Bis sich dann im Kopf immer mehr ein Satz festsetzte:
„Was für eine Frau, als käme sie direkt vom Himmel!“
Gespräch mit Pizza
„Na, dann hau mal rein.“
Ich hob mein Glas und prostete Stefan zu. Wir saßen in meinem Wohnzimmer. Stefan hatte zu meiner Rechten auf der Couch Platz genommen. Ich selbst saß in einem Sessel an der Stirnseite des Tisches. Mein Freund war etwas kleiner als ich. Und wenn er auch um drei Monate älter war, sah er doch sehr viel jünger aus. Seine blonden, etwas ungeordneten Haare und seine hellblauen Augen gaben ihm dieses fast noch teenagerartiges, Aussehen. Dies wurde noch von seinem etwas schmächtigen aber durchaus sportlichen Körper betont. Stefan lächelte zurück, und ließ sich die Aufforderung nicht zweimal sagen.
Vor uns lagen zwei köstlich duftenden Pizzen, die nur darauf wartenden verspeist zu werden. Das Essen begann im rasenden Tempo, gerade so, als habe jeder Angst der andere könne ihm etwas wegessen. Und wie immer war Stefan als erster fertig. Nun saß er da, einen traurigen Blick auf meine dahinschwindende Speise gerichtet, und monierte:
„Meine war natürlich wieder kleiner!“
„Nein Stefan, beim Essen verwandelst du dich einfach nur in einen Staubsauger. Vielleicht solltest du mal probieren, zwischendurch zu kauen.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Aber er kannte meinen Einwand schon. Schnell wechselte er das Thema:
„Du hast heute deinen Jungenkreis gestartet. Erzähl doch mal.“
„Es hat wirklich alles sehr gut geklappt. Deine Leute waren alle da. Es kamen sogar ein paar Neue.“
Stefan war zufrieden: „Das ist gut. Dann wird ja endlich die EJW-Arbeit in der Gemeinde weitergehen.“
Nun lächelte ich:
„Darüber hat sich heute schon jemand anderes gefreut. – Myriam!“
„Myriam? Wer ist denn Myriam?“
Nun lehnte ich mich zurück und begann zu erzählen:
„Myriam ist eine Mitarbeiterin des EMPs und macht auch in unserer Gemeinde Jugendarbeit. Aber das ist gar nicht das Wichtigste. Sie ist einfach eine hübsche Frau. Ich bin jetzt noch ganz weg, wenn ich an sie denke. Du hättest ihre Stimme hören sollen. So ruhig und so sanft. Auch ihre Art und Haltung war ganz einmalig. Ich hatte sie am Anfang ziemlich angefahren. Zuerst erschien es mir, dass sie ärgerlich werden wolle. Aber dann gab sie sich ganz freundlich. Wir haben uns eine ganze Weile unterhalten. Bis sie dann weg musste. Schade ich hätte noch stundenlang weiterreden können. Irgendwie erscheint mir Myriam nicht von dieser Welt. Ich glaube es hat mich richtig gepackt.“
Stefan war überrascht. So hatte er mich noch nie erlebt. Und ich muss gestehen, ich mich auch noch nicht.
Eine Geschichte nimmt Fahrt auf
Ich stand unter hoher Anspannung, als ich mich im Gemeindebüro auf den gleich anstehenden Jugendausschuss vorbereitete. In meinem Bauch schien ein schwerer Stein zu liegen. Mir war bange, weil ich nicht wusste, wie die Menschen auf das reagieren würden, was Herr Pfarrer Grün ihnen gleich verkünden wollte. Und vor allem war mir vor Myriams Reaktion bange. Dass sie da sein würde, wusste ich. Denn ich hatte die Einladungsliste selbst erstellt.
Nun versuchte ich noch einmal meine Gedanken zu sortieren, während ich auf den Geistlichen wartete. Wir wollten zusammen in das Gemeindehaus hinübergehen. Dort würde der Gemeindediener, Herr Krautmann, die Eingeladenen schon ins Büchereizimmer eingelassen haben und mit ihnen auf uns warten.
Ich hörte wie sich die schwere Tür zum Büro des Pfarrers schloss. Nur einen kleinen Augenblick später schaute er ins Gemeindebüro hinein:
„Sind sie fertig?“,
fragte er kurz und freundlich. Ich nickte.
„Na, dann lassen Sie uns hinüber gehen.“
Ich packte meine vorbereiteten Zettel zusammen und folgte ihn hinaus. Pfarrer Grün war etwas kleiner als ich, leicht untersetzt und hatte schütteres Haar. Er hatte die 60 schon erreicht. Sein Amt führte er sehr geordnet. Dennoch saß ihm immer mal wieder ein kleiner Schalk im Nacken. Das machte ein Arbeiten mit ihm angenehm.Ich war nach meinem Zivildienst in die Evangelische Kirche übergetreten. Somit gehörte ich nun zu dieser Gemeinde und arbeitete an vielen Stellen ehrenamtlich mit. So strebte ich nun hinter ihm her, über den Hof, an den Jugendräumen vorbei, zum Gemeindehaus.
Die Tür zum Büchereizimmer war geschlossen. Aber wir hörten schon ein Gemurmel durch die Tür dringen. Noch einmal zog es durch meinen Bauch. Ich atmete tief durch. Herr Grün hatte die Tür bereits geöffnet und wir traten gemeinsam ein.
Hätte ich Angst vor Spinnen und wäre dieser Raum voll von diesen Tierchen gewesen, ich hätte keines von ihnen wahrgenommen. Mein Blick fiel sofort auf Myriam. Sie saß seitlich zur Tür. Und auch sie schaute mich sofort an. Ihre Augen leuchteten und ließen ihr Antlitz erstrahlen. Ich spürte abrupt Wärme in meinem Gesicht aufsteigen. Oh je, sicher werde ich gerade rot, dachte ich und schaute verlegen weg.
Wir hatten uns seit unserem ersten Treffen nur noch einmal gesehen. Auch hier, in diesen Raum. Auch zu einem Jugendausschuss. Damals wurde dieser noch von Herrn Fröschl geleitet. Aber dieser hatte geheiratet und war weggezogen. Seitdem hatte sich niemand mehr speziell um die Jugendarbeit in der Gemeinde gekümmert.
Ich hatte mich damals nur kurz mit Myriam unterhalten können. Sie musste schnell weg. Aber auch dieses Gespräch fand in einer sehr schönen, freundlichen Atmosphäre statt. Es war so, als hätten sich zwei alte Bekannte wieder getroffen. Nun trat ich ihr hier zum dritten Mal gegenüber. Und dieses Mal hatte ich eine Überraschung für sie parat.
Ich setzte mich an die Stirnseite des Tisches, gegenüber von Herrn Pfarrer Grün. Die kleinen Gespräche am Tisch hatten aufgehört. Alle wendeten sich nun dem Pfarrer zu. Dieser eröffnete die Sitzung mit einer kurzen Begrüßung.
Dann wurde er amtlich:
„Der Kirchenvorstand hat sich über die Situation der Jugendarbeit in unserer Gemeinde beraten, und entschieden, dass Herr Balu ab sofort die Leitung des Jugendausschusses übernimmt. Er hat vom Kirchenvorstand eine weitgehende Vollmacht zur Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Jugendarbeit erhalten. Herr Balu wird ihnen nun erläutern, welche Vorstellungen er sich zur Jugendarbeit in dieser Gemeinde gemacht hat.“
Damit übergab er mir das Wort. Myriam war bei der Nennung meines Namens herumgefahren. Es schien fast so, als hätte sie, beinahe freudig überrascht, aufgeschrien. Nun saß sie mit offenem Mund da und schaute zu mir herüber. Ihre Augen verrieten mir das größte Wohlwollen.
Myriams Reaktion tröstete mich ein wenig, dennoch war mir im Moment etwas mulmig. Aber mit meinen ersten Worten löste sich meine Anspannung:
„Ich möchte, dass die Jugend in der Gemeinde wieder sichtbar wird. Daher möchte ich Jugendtage und Jugendgottesdienste veranstalten. Ich möchte, dass die Jugendlichen aus unseren Kreisen, in der Gemeinde dort eingebunden werden, wo sie gebraucht werden und helfen können. Daher wird Herr Krautmann daher in Zukunft dem Jugendausschuss angehören.
Zur Durchführung von Jugendtagen und Jugendgottesdiensten brauche ich die breiteste Unterstützung aus den Jugendkreisen. In Zukunft wird nicht mehr nur jedes Jugendwerk im Jugendausschuss vertreten sein, sondern jeder Leiter eines Jugendkreises in dieser Gemeinde.
Ein Vertreter des Jugendausschusses wird in den Gottesdienstausschuss gehen. Dies werde am Anfang erst einmal ich selber sein. Zudem wird ein Vertreter der Jugend im Festtagsausschuss sitzen, damit die Jugend bei den Gemeindefesten besser vertreten sein wird.
Der Jugendausschuss wird regelmäßig alle zwei Monate tagen. Die erste Arbeit, die ich anfassen möchte, ist die Renovierung der Jugendräume, in Eigenleistung durch bereitwillige Jugendliche und den Gruppenleitern. Dazu bitte ich nun um Wortmeldungen.“
Natürlich wurden erst einmal viele andere Fragen gestellt. Aber am Ende war auch die Renovierung der Jugendräume geklärt. Ich beendete die Sitzung. Ich war kaum aufgestanden, da stürmte auch schon Myriam auf mich zu:
„Ich gratuliere dir. Du warst großartig! Ich finde deine Ideen wirklich toll und werde in meinen Kreisen dafür werben. Bei der Renovierung kann ich dir leider nur begrenzt helfen. Das lässt meine Zeit nun mal nicht zu. Aber soweit ich behilflich sein kann, werde ich dich gerne unterstützen.“
„Ich danke dir. Ich denke, es werden sich einige finden, die beim Renovieren helfen wollen. Mit dir würde ich mich gerne in den Jugendräumen treffen, um uns über die Farbengestaltung der einzelnen Räume zu einigen.“
Myriam war sofort einverstanden und hatte schon ihren großen Terminkalender in der Hand:
„Ich kann am Donnerstagabend 18 Uhr. Passt dir das?“
Auch ich war mit diesem Termin einverstanden.
„Ich freue mich wirklich, auf unsere gemeinsame Arbeit“,
sagte Myriam noch zum Abschied mit strahlenden Augen. Und ehe ich ihr ein:
„Ich mich auch“,
antworten konnte, eilte sie mit beschwingten Schritten schon davon.
An die Arbeit
Es war viel Arbeit. Aber irgendwann strahlten die Wände der Jugendräume in neuen Farben. Nun konnte die eigentliche Arbeit beginnen. Wie kann man dies besser Initiieren, als wenn man den neuen Jugendausschuss zu einem Zeltwochenende in den Taunus einlädt. An einen frühlingshaften Samstagmorgen brachen wir auf. So konnten wir uns ein ganzes Wochenende lang darüber beraten, wie wir die Arbeit in der Gemeinde zukünftig gestalten wollten.
Neben Stefan und Sven als Jungscharleiter, gehörten noch Andy und Joachim als Leiter von Pfadfindergruppen, Joachims Schwester Jasmin und Inge als Zuständige des EMP-Nachwuchses in der Gemeinde, Myriam als EMP-Leiterin, sowie Claudia zum Team. Claudia hatte noch keine Funktion in der Jugendarbeit. Sie war als Freundin von Stefan gerne eingeladen. Sie übernahm im Lager die Küchenarbeit. So hatten wir die verfügbare Zeit zum Planen unserer Arbeit.
Die Pfadfinderführer und Pfadfinderführerinnen bauten die Zelte auf und richteten mit ihren erlernten Fähigkeiten ein funktionierendes Lager ein. Zum ersten Mal arbeiteten sie zusammen. Nachdem wir diese Arbeiten zur Einrichtung des Lagers erledigt hatten, war eine kleine Ruhepause nötig und Myriam kam strahlend auf mich zu:
„Dieses Lager war eine wunderbare Idee von dir. Ich spüre jetzt schon, wie hier ein guter Geist weht. Die Leute verstehen sich. Ich glaube, so kann man miteinander arbeiten.“
Ich war Myriam sehr dankbar für diese Worte. Bis eben hatte ich unter einer großen Anspannung gestanden. Jetzt fühlte ich mich beruhigt:
„Ich hoffe, die Stimmung hält an, wenn wir erst einmal über die Jugendarbeit und die angedachten Projekte reden.“
„Ted, du wirst das schon machen“,
sprach sie, warf mir wieder ihr wunderbares Lächeln zu und entschwand zu neuen Taten. Ich lächelte ihr noch einen Augenblich lang nach. Dann ging auch ich wieder an meine Arbeit.
So begannen die zukunftsplanenden Arbeitseinheiten. Am Anfang gingen die Vorstellungen und Wünsche noch recht weit auseinander. Doch mit der Zeit näherte man sich immer mehr an. Und am Ende dieser ersten Besprechung stand ein, von allen getragenes, Konzept für unsere Arbeit in der Gemeinde.
Am Abend entzündeten die Pfadfinder ein Lagerfeuer und grillten das mitgebrachte Fleisch und Gemüse. Geübte Gitarristen begleiteten uns zu unseren Fahrtenliedern und bei einem guten Tropfen Wein klang dieser Tag mit einer munteren Unterhaltung aus.
Das Schlafen auf dieser hauchdünnen Isomatte, die mich vom holprigen, kalten Waldboden trennen sollte, war nicht sehr angenehm. So wachte ich recht früh auf. Die anderen lagen noch eingemummelt in ihren Schlafsäcken und schnarchten um die Wette. Ich schälte mich leise aus meiner Schlafbedeckung, zog mich rasch an und verließ das Zelt.
Es war schon hell. Die Frische des Morgens umgab mich. Ich streckte mich und genoss das Gefühl, wie langsam die Lebensgeister in mir erwachten. Dann genoss ich das Panorama des uns umgebenden Waldes. Ein wenig erschrak ich, als ich beim Herumdrehen Myriam erblickte. Sie saß an der fest installierten Tisch-Sitzgruppe und war anscheinend im Lesen vertieft gewesen. Nun hatte sie ihr Buch zur Seite gelegt und schaute mich lächelnd an. Ein wenig war es mir peinlich, dass sie mich heimlich beobachtet hatte. Aber dann setzte ich auch ein Lächeln auf. Eigentlich freute ich mich ja über ihre Anwesenheit:
„Hallo Myriam, auch schon so früh draußen?“,
sprach ich sie an, als ich auf sie zuging. Sie legte ihren Finger auf ihre Lippen und machte:
„Pst! Weck‘ nicht die anderen auf. Sie können ruhig noch ein wenig schlafen.“
Bei ihr angekommen, setzte ich mich ihr gegenüber. Sie musterte mich freundlich und flüsterte mir zu:
„Toll sieht das aus, was du da anhast. Ich mag es. Ein weißes Hemd und deine blaue Jeans. Das steht dir sehr gut.“
Verlegen blickte ich weg. Einen Augenblick schien es mir, als erwarte sie etwas von mir – irgendeine Antwort. In meiner offensichtlichen Verlegenheit fand ich keine. Dann sprach sie leise weiter:
„Das war klasse, wie du das gestern gemacht hat. Du hast die Sache gut im Griff. Ich war öfters erstaunt, wie du in verfahrenen Situationen plötzlich Lösungen aus dem Ärmel gezaubert hast. Solche, mit denen alle einverstanden waren. Es ist gut, dass du bei Streitpunkten nicht Abstimmen lässt, sondern so lange nach gemeinsamen Wegen suchst, bis sie gefunden sind.“
Wieder lief ein warmer Schauer durch meinen Körper. Ihre Zustimmung war mir sehr angenehm. Und dennoch wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Ich murmelte ein:
„Ich weiß nicht, woher ich meine Ideen hernehme. Sie sind einfach da.“
Myriam schaute mich gefühlvoll an. Sie merkte offensichtlich, dass mir das Thema peinlich war. Schnell schnitt sie ein anderes an:
„Weißt du was, wir bereiten zusammen das Frühstück vor. Aber leise, damit wir die anderen nicht wecken.“
„Das ist eine gute Idee. Ich schau nach dem Feuer und setze schon einmal das Wasser auf“,
„Ja, tue das. Ich decke in der Zwischenzeit den Tisch. Was magst du denn zum Frühstück?
„Ach, eigentlich esse ich morgens gar nicht. Ich trinke nur meinen Kaffee. Aber wenn, nehme ich Wurst- oder Käsebrote zu mir. Ich brauche etwas Deftiges. Was isst du denn?“
Myriam tat ganz geheimnisvoll und holte eine Schüssel mit einem gräulich-braunen Brei heran.
„Das ist ein Körnerschrot. Den habe ich über Nacht quellen lassen. Nun esse ich ihn, vermengt mit frischen Früchten. Möchtest du etwas davon abhaben?“
Mein Gesicht sprach bestimmt ein entschiedenes Nein. Schnell versuchte ich abzulenken:
„Die armen Vögel!“
Sie warf mir einen unsicheren Blick zu:
„Wie?“
Ich grinste über das ganze Gesicht:
„Ja, die armen Vögel. Sie müssen jetzt verhungern, wenn du ihnen das Futter wegnimmst.“
Myriam lachte hell auf. Hielt sich aber gleich die Hand vor dem Mund:
„Ich glaube ich habe jetzt jemanden aufgeweckt.“
Tatsächlich rührte sich in der schwarzen Kothe, die Unterkunft der männlichen Mitarbeiter, etwas. Einen Moment lang hörte man das rascheln eines Schlafsack und das Zippen eines Reisverschlusses. Augenblicke später schaute das verschlafene Gesicht von Stefan aus dem Zelt:
„Ihr macht ja vielleicht einen Krach“
„Wir machen keinen Krach, sondern beginnen den Tag einfach nur fröhlich“,
antwortete Myriam schlagfertig. Stefan gesellte sich zu uns. Nun war unsere erste Zweisamkeit leider schon beendet. Ich hätte sie sehr viel mehr genossen, wenn ich geahnt hätte, dass es auf unserem, noch recht langem, gemeinsamen Weg kaum noch solche Momente geben würde.
Der Osterspaziergang
Über das Jahr wurden viele Projekte in der Jugendarbeit angestoßen und verwirklicht. Die allesamt ehrenamtlichen Jugendarbeiter der verschiedenen Jugendwerke freuten sich an der gemeinsamen Arbeit und wir waren bald zu einem hervorragenden Team geworden. Schnell verschwamm die Grenze zwischen privaten und ehrenamtlichen Treffen. Wir waren auch zu Freunden geworden. Und Myriam wurde zu meiner häufigen Begleiterin.
So besuchten wir gemeinsam Theatervorstellungen, trafen uns zum Kino oder gingen auch das eine oder andere Mal miteinander Pizza spachteln. Allerdings waren wir niemals alleine. Es geschah immer in einer Gruppe Gleichgesinnter. Auch unser Spaziergang am Ostersonntagmorgen fand gemeinsam mit anderen statt.
Zunächst kam Myriam zu mir:
„Ted, ich würde dich gerne einmal zu etwas Besonderen einladen. Was hältst du davon, wenn wir morgen ganz früh aufstehen und in den Taunus fahren. Dort machen wir dann einen Spaziergang.“
Nun waren wir schon öfter einmal im Taunus herumgelaufen. Ich konnte nichts Besonderes an dieser Einladung finden. Ich war nicht gerade begeistert und antwortete daher:
„Ich wollte eigentlich zum Frühgottesdienst mit anschließendem Osterfrühstück gehen.“
Myriam setzte ihr fröhlichstes Gesicht auf:
„Der beginnt doch erst um acht. Bis dahin sind wir längst zurück. Wir gehen dann gemeinsam hin.“
Ich war überrascht:
„Wann willst du denn starten?“
„Wir müssen uns um fünf auf die Socken machen. Treffen wir uns bei dir?“
Meine Begeisterung hielt sich in sehr engen Grenzen. Ich sagte aber zu. Als ich es Stefan erzählte, wollte er auch mitkommen. Am Ende fuhren wir zu sechst los. Jasmin, Claudia und Joachim hatten sich ebenfalls angemeldet.
Es war noch dunkel, als wir im Taunus ankamen. Wir parkten meinen silberfarbenen VW-Bus auf dem Parkplatz an der Klinik am Hohemark und machten uns schweigend auf den Weg.
Was wollte Myriam uns Besonderes zeigen? Gespannt, aber wie Myriam uns gebeten hatte, ohne ein Wort zu reden, schritten wir voran. Unser Spaziergang dauerte nun fast schon eine dreiviertel Stunde. Langsam setzte die Dämmerung ein. Uns umgab eine gespenstische Ruhe. Nur unsere dumpfen Schritte auf dem trockenen Waldboden waren zu hören. Plötzlich blieb Myriam stehen:
„Pst!“,
flüsterte sie:
„Habt ihr das eben gehört?“
Wir schauten allesamt verwundert drein. So richtig wusste keiner was Myriam meinte. Aber unsere Sinne lauschten nun angestrengt in die Stille hinein. Dann plötzlich: Ein leises zartes Vogelgezwitscher. Und gleich darauf kam von irgendwo her eine Antwort. Wieder ein Gezwitscher. Dieses Mal eine andere Melodie. Auch dieses wurde sogleich beantwortet. Dann fiel der erste Vogel mit seinem Lied wieder ein. Eine dritte und eine vierte Art gesellten sich mit ihrem Gesang dazu. Auch ihre Rufe wurden sogleich beantwortet.
Und plötzlich explodierte die Stille. Unsere Sinne, die gerade noch auf das zarte leise Gezwitscher einiger weniger Vögel ausgerichtet waren, wurden plötzlich von einem ohrenbetäubenden Vogelkonzert gepeinigt. Ich war berührt, von diesem für mich total neuem, dennoch aber täglich stattfindenden, Naturschauspiel. Eine ganze Weile lauschte ich in den Wald hinein und entdeckte immer wieder eine neue Melodie. Auch die anderen standen lauschend da, bis das Konzert langsam einebnete und wieder Ruhe einkehrte.
Myriam stand da und lächelte über das ganze Gesicht. Einen Augenblick blitze es in ihren Augen. Mir schien, als könne ich einen Wunsch aus ihnen herauslesen. Eine Aufforderung:
„Gib mir einen Kuss! Sofort!“
Mein Blick konnte sich nicht von ihr abwenden. Wie von selbst befeuchteten sich meine Lippen. Begierig darauf, dem unausgesprochenen Verlangen nachzukommen. Unwillkürlich machte ich einen kleinen Schritt auf sie zu. Ihr Körper straffte sich ein wenig. Dann fuhr mein Verstand unbarmherzig dazwischen:
„Doch nicht jetzt, hier vor allen Leuten!“
Ich stoppte meine Bewegung, begleitet von einem kaum merklichen Schulterzucken. Dabei dachte ich:
„Später, ganz bestimmt!“,
so intensiv, dass ich glaubte, die Botschaft müsse in meinem Gesicht geschrieben stehen. Sie entspannte sich ein wenig und senkte ihren Blick. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und drehte sich einen Augenblick lang von mir weg. Indem sie sich wieder zu mir drehte, sagte sie mit leiser Stimme:
„Das habe ich dir zeigen wollen“,
und weiter mit fester Sprache zu allen:
„Jetzt können wir gerne zurückfahren und in den Gottesdienst gehen. Es wird Zeit.“
Ein wenig beeindruckt von diesem Naturschauspiel machten wir uns auf dem Weg. Immer wieder kreisten meine Gedanken um jenen winzig kleinen Augenblick. Ich fühlte, Myriam so nahe, wie noch nie gewesen zu sein. Ich war glücklich. Eine Ahnung davon, dass hier möglicher Weise etwas zerbrochen sein könnte, hatte ich lange Zeit nicht.
Der Judogriff
Leider fand sich keine Gelegenheit, mein stummes Versprechen wahr werden zu lassen. Mit ihr weiterhin nur freundschaftlich verbunden, ging der Lauf des Jahres weiter. Schon standen wir vor der Adventszeit.
„Nun haben wir uns aber eine Pause verdient. Bis wir hier weitermachen können, vergehen bestimmt zwei Stunden.“
Myriam hatte recht. Im Moment konnten wir hier nichts mehr machen.
„Wisst ihr was? Wir gehen hoch zu mir. Da kann ich uns ein paar Brote machen. Und wir haben es etwas gemütlicher“,
schlug Stefan vor. Noch ehe ich zustimmen konnte preschte Myriam vor:
„Ja, das machen wir!“
Die „Jugend“ sollte eine der vier Adventsandachten halten. Dazu waren viele Vorbereitungen nötig. Nun waren wir an einem Punkt angelangt, an dem wir warten mussten. So gingen wir von der Gemeinde aus, hoch in die Siedlung. Stefan wohnte dort mitten drinnen. Auf dem Weg dahin blieb Myriam plötzlich stehen:
„Du Ted, ich habe da einen tollen Griff gelehrt. Damit kann ich mich verteidigen, wenn mich einer in böser Absicht angreift. Ich will ihn dir einmal zeigen. Dazu musst du mich von hinten packen.“
Ich blieb unschlüssig stehen. Myriam wurde ungeduldig:
„Na los, pack mich von hinten! Einfach so unter meinen Arme durch.“
Noch immer reagierte ich nicht wie gewünscht. Stefan schoss vor:
„Ich werde es machen“,
sprach er und ging auf Myriam zu. Doch sie wehrte energisch ab:
„Nein! Ted soll es machen!“
Jetzt murmelte ich:
„Na gut“.
Langsam setzte ich mich in Bewegung. Myriam drehte sich um und bot mir ihren Rücken an. Zögerlich umschloss ich sie mit meinen Armen. Es war das erste Mal, dass ich sie richtig anfasste. Aber ich wollte ihr nicht wehtun. Also griff ich nur ganz sachte zu. Sie fing an sich ruckartig zu bewegen. Ich ließ sofort los. Ärgerlich drehte sie sich um:
„Nein Ted, du darfst nicht loslassen. Und du musst mich fester packen. Und näher herankommen. So dass ich dich richtig spüren kann.“
Wieder griff ich zu. Ein wenig fester, ein wenig dichter an ihr dran. Einen kleinen Augenblick blieben wir so stehen. Dann rief sie:
„Greif ruhig noch etwas fester zu. Dann klappt alles viel besser.“
Ich rückte noch ein kleines bisschen näher an sie heran und drückte sie fester an mich. Myriam war nun zufrieden. Schon begann sie sich wieder ruckartig zu bewegen. Wand sich ein wenig in meinem Armen. Dann führte sie ihren Ellenbogen gegen meine Rippen und machte eine kleine Drehung zu mir und bückte sich unter meinen Armen durch. Stolz stand sie nun vor mir:
„Siehst du, ich habe mich befreien können. Ist das nicht ein toller Trick?“
Dann schaute sie mir in die Augen:
„Ich habe dir doch nicht zu arg wehgetan?“
Ich lächelte sie an:
„Keine Sorge, der Schmerz hielt sich in Grenzen.“
Ich sagte ihr nicht, was ich von ihrer Demonstration hielt. Ich hoffte nur, dass sie niemals in die Lage kommen würde, so etwas ernsthaft brauchen zu müssen. Ein echter Übeltäter würde sie nämlich nicht so einfach loslassen.
Ja, ich hatte sie wieder losgelassen. Nicht so offensichtlich wie vorher. Aber ich habe sie wieder losgelassen. Nicht etwa, weil es mir unangenehm war, sie zu berühren. Im Gegenteil, ich fühlte mich sehr wohl dabei. Am liebsten hätte ich sie gar nicht mehr frei gegeben. Aber ich fühlte mich nicht ehrlich dabei. Sie wollte mir einen Trick zeigen. Und ich stahl ihr diese Berührung einfach für meine Zwecke. Für meine weltlichen Wünsche. Nein, das wäre nicht ehrlich ihr gegenüber gewesen. Das wollte ich nicht zulassen. Deshalb löste ich die Umarmung.
In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass irgendetwas nicht richtig lief, in meiner Beziehung zu ihr. Aber ich hatte keine Ahnung, was es war. Dabei hätte dieser Augenblick mir einige Augen öffnen können. Gerade ihr abweisendes Verhalten gegenüber Stefan sprach eigentlich Bände. Aber meine Augen blieben geschlossen.
Weihnachtsabend im „Saga Wald“
Wenn wir Ostern früh aufstanden, um in den Gottesdienst zu gehen, so wurde es am Heiligen Abend stets sehr spät. Wir besuchten, nachdem wir in unseren Familien die Bescherungen über uns ergehen hatten lassen, die Mitternachtsmette unserer Gemeinde. Anschließend trafen wir uns bei Stefan zu einem gemeinsamen weihnachtlichen Ausklang. Traditionell wurde dabei das „Spiel des Jahres“ gespielt. In diesem Jahr war es „Saga Wald“.
So saßen Stefan, Claudia, Jasmin, Joachim, Myriam und ich schon eine ganze Weile beim Spielen zusammen. Aber ich war nicht so recht bei der Sache. Meine Gedanken drehten sich, wie schon seit Tagen, um Myriam:
„Was war eigentlich los? Was wollte Myriam? Welches Interesse hatte sie? An mir?“
Ich schaute zu Myriam hinüber. Sie ging voll im Spiel auf. Gerade hatte sie wieder eines der Bäumchen aufgenommen und prägte sich das Symbol auf dessen Unterseite ein. Sie beherrschte dieses Spiel sehr gut. Die erste Runde hatte sie gewonnen.
Nun war ich mit dem Würfeln an der Reihe. Auch ich konnte wieder ein mir unbekanntes Bäumchen erreichen. Ich schaute mir sein Geheimnis an und stellte es zurück. Doch bald darauf hatte ich sein verstecktes Zeichen schon wieder vergessen.
Wieder blickte ich Myriam an. Sie war voll auf das Spiel konzentriert. Sicher ging sie in Gedanken noch einmal alle ihr bekannten Symbole durch. Ich schaute mich in der Spielrunde um. Unversehens schaute ich in die rehbraunen Augen von Jasmin. Hatte sie mich beobachtet? Jasmin hielt einen Augenblick den Blickkontakt, so intensiv, als wolle sie mich durchleuchten.
Warum schaut sie mich so an? Was will sie bei mir entdecken?
Jasmin war etwas kleiner als Myriam und sehr hager. Sie hatte mittelbraunes gelocktes Haar und in ihrem schmalen Gesicht eine etwas spitze Nase. Sie sah alles im allem recht attraktiv aus.
Ich war wieder an der Reihe. Mein Zug war ergebnislos, ich konnte keinen interessanten Punkt erreichen.
Warum tat Myriam nichts? Warum öffnete sie mir keinen Zugang mehr zu sich? Seit unseren Osterspaziergang gab es keine Gelegenheit, mein im Stillen, abgegebenes Versprechen zu erfüllen. Hatte ich mich getäuscht? War da niemals ein solches Begehren in ihren Augen gewesen?
Ich war schon oft verliebt gewesen, hatte mich bemüht, das Herz meiner Angebeteten zu erreichen und war am Ende immer ins Leere gegangen. Stets hatte ich geglaubt, die Herzen der Damen schlugen im Gleichklang mit mir. Doch ich hatte mich stets getäuscht. Und jetzt bei Myriam? Hatte ich mich schon wieder geirrt?
Stefan schien nun alle Zeichen zu kennen. Er macht sich auf dem Weg zum Ziel.
Ich werde dieses Spiel wohl nicht gewinnen können, dachte ich resigniert.
Ich hatte meine Freundinnen gehabt. Dabei lernte ich jedoch: Frauen werden aktiv, wenn sie das Interesse eines Mannes wecken möchten. Ja, meine Erfahrung sagte mir, sie erledigen das schon. Machen die Wege frei. Manchmal sehr überraschend. Ich dachte an Sybille und an Berlin. Bei meiner ersten Beziehung ging alles sehr rasch, damals.
Myriam war anders als die Frauen, mit denen ich bisher zusammen war. Sie erschien mir so makellos. Wie sollte man sich einer solchen Ikone nähern. Wie könnte ich sie mit meinen weltlichen Wünschen und Gedanken überschütten? Ich fand einfach keinen Weg zu ihr. Mir schien, hier ergab sich nur eine Möglichkeit, die ins Desaster: Korb, Schmerz und Trauer. Nein diesen Weg mochte ich bei ihr nicht gehen. Käme sie mir doch nur ein wenig entgegen.
„Was ist mit dir, Ted?“
Ich schrak auf. Myriam sah mich besorgt an.
„Ach, ich bin einfach nur hundemüde“,
Irgendwie stimmte das ja auch: Ich fühlte mich sehr müde.
„Ich denke, wir machen nach diesem Spiel auch Schluss. Soll ich dich heimfahren. Du hast ja doch schon eine Menge Wein getrunken.“
Ich schüttelte den Kopf:
„Vielen Dank, lieb von dir, aber ich penne heute beim Stefan auf der Couch.“
„Oh, dann müssen wir uns ja noch mehr beeilen, damit du endlich zur Ruhe kommen kannst.“
Ich lächelte etwas gequält:
„Ich denke es geht noch einen Augenblick.“
„Das ist schön. Aber du musst jetzt würfeln, sonst geht das Spiel überhaupt nicht zu Ende.“
Ich tat meine Pflicht und hatte wieder keinen Erfolg.
Mir tat die Fürsorge von Myriam gut. Wie immer. Aber war das Liebe? Ich merkte, dass mein Blick schon wieder auf ihr lag. Ich schüttelte den Kopf und ich wusste nicht einmal warum. Wieder fiel mein Blick zu Jasmin. Sie hatte mich abermals fixiert. Sie schien sich nicht daran zu stören, dass ich ihren Blick bemerkte. Sie sah sehr nachdenklich aus. Was sie wohl von mir wollte.
Ein Aufschrei ging durch die Runde. Das Spiel war aus. Stefan hatte gewonnen.
Die Entscheidung
„Ich sehe einfach keinen Sinn mehr darin, mich um Myriam zu bemühen. Da ist überhaupt nichts. Keinen Schritt sind wir uns nähergekommen.“
Stefan und ich saßen in ein einer ruhigen Ecke des Hause Heinrichs. Unser Bibelkreis war übers Wochenende zu Gast bei ihm. Wir hatten auf großen, sehr eckigen, thronähnlichen Stühlen Platz genommen. Ich hielt den Kopf gesenkt als ich dies fast stimmlos von mir gab. Stefan starrte überrascht zu mir hinüber:
„Aber ihr seid doch ständig zusammen. Ist da denn nichts?“
„Was soll denn da sein? Die Frau ist einfach freundlich zu jedem. Also ist sie auch freundlich zu mir. Mehr ist da nicht.“
Stefan erwiderte nichts. Es entstand eine lange Pause, bevor ich wieder das Wort ergriff:
„Sie ist einfach eine so großartige Frau. Ich kann sie mit meiner Verliebtheit einfach nicht belästigen. Ich bin so verschossen in sie, und dennoch habe ich keinerlei lüsternen Gedanken ihr gegenüber. Das würde bei mir einfach nicht zusammenpassen. Wie soll man einer solchen Frau begegnen?“
Stefan warf ein ebenfalls sehr stimmloses:
„Ich weiß nicht“,
in den Raum.
„Ich weiß es auch nicht. Ich muss von ihr loskommen. Deshalb habe ich mich zu einem radikalen Schritt entschlossen.“
Nun wurde der blonde Freund hellhörig. Er schaute zu mir hinüber, während ich mit entschlossenem Blick zu den Büchern in den Regalen hinüber starrte.
„Was hast du vor?“
Ein kleines, fast spöttisches Lächeln huschte über mein Gesicht:
„Ich werde diese Liebe mit einer Liebelei bekämpfen.“
Stefans Stirn legte sich in Falten:
„Wie bitte?“
„Stefan, ich habe bemerkt, dass Jasmin anscheinend Interesse an mir hat. Sie ist immer öfters in meiner Nähe und ich habe sie ein paarmal dabei erwischt, wie sie mich heimlich beobachtete. Ich finde, sie ist auch eine sehr attraktive Frau. Wenn ich mich jetzt um sie bemühe, dann vergesse ich vielleicht Myriam. Dann gibt es keine Tränen und keine Schmerzen. Was Besseres kann ich doch gar nicht machen.“
„Das ist ja wohl die genialste Idee, die du je gehabt hast.“
Der Spott Stefans hallte durch den Raum. Einen Augenblick lang löste ich meinen Blick von den Büchern und schaute ihn an:
„Stefan, es hat doch anders keinen Sinn. Wenn ich weiterhin den Weg zu Myriam suche, gibt es irgendwann einmal einen riesigen Krach. Das darf, allein schon wegen unserer gemeinsamen Arbeit nicht sein. Ich muss diese Suche beenden. Wenn Jasmin wirklich Interesse hat, dann soll mir dieser Weg auch recht sein, sie ist irgendwie ebenfalls ganz lieb. Und selbst wenn nichts daraus wird, dann lenkt sie mich doch etwas von der Anderen ab. Denn, da bin ich mir nun ganz sicher, den Weg „Myriam“ gibt es einfach nicht!“
Wir saßen eine Weile schweigend zusammen. Dann ertönte Stefans leise, zögernde Stimme:
„Weißt du Ted, ich bin schon seit langem in Myriam verliebt. Ich habe mich immer zurückgehalten, um dir nicht ins Gehege zu kommen. Aber wenn du kein Interesse mehr an ihr hast, hast du doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich um sie bemühe?“
Ich schaute ihn mit offenem Mund an:
„Du bist doch mit Claudia zusammen. Was ist denn mit ihr?“
„Unsere Beziehung funktioniert schon seit ein paar Monaten nicht mehr so richtig. Die Unterschiede zwischen uns sind doch sehr groß. Eigentlich haben wir uns bereits getrennt. Sie würde Myriam nicht im Wege stehen.“
Diese Offenbarung überraschte mich nun doch. Aber Stefans Frage musste beantwortet werden:
„Myriam hat mir zu keinem Zeitpunkt gehört. Nur sie selbst entscheidet, wem sie ihre Gunst anbieten möchte. Ich habe damit nichts zu tun. Dennoch danke ich dir für deine Offenheit und für deine Zurückhaltung in der Vergangenheit. Ich wünsche dir mehr Glück, als ich es gehabt hatte.“
Ich stand auf und ging zum Bücherbord hinüber. Schweigend betrachtete ich die antiquarischen Schinken, ohne ein echtes Interesse an ihnen zu haben. Plötzlich fühlte ich, wie eine schwere Last von mir abfiel. In diesem Moment schloss ich für mich das Kapitel „Myriam“. Und endlich sah ich wieder ein Ziel vor meinen Augen, das ich erreichen zu können glaubte: Jasmin.
„Mache dich auf den Weg.“,
sprach ich mir selber den Mut zu.
Schlussakkord
Ungeduldig durchbrach Claudia die Stille:
„Nun, was sagst du zu dieser Neuigkeit?“
Erschrocken sah ich auf und wurde jetzt erst wieder der etwas jüngeren Dame gewahr:
„Wie?“
„Ich hatte dich gefragt, was du von dieser Neuigkeit hältst.“
Ich pustete einen scharfen Luftstrom durch meine Nase und schüttelte, mit einem kleinen Lächeln begleitet, langsam den Kopf:
„Das ist keine wirkliche Neuigkeit für mich. Dass Jasmin hinterm Stefan her war, wissen Stefan und ich schon eine ganze Weile. Und dass mit Myriam, habe ich noch viel länger schon geahnt. Ich habe vor einiger Zeit bereits dem Stefan gesagt gehabt:
„Wenn Myriam überhaupt in einen von uns beiden verliebt ist, dann in mich. Da bin ich mir nun ziemlich sicher.“
Aber er wollte es nicht hören. Eben hat mich nur überrascht, dass ich meine Ahnung nun tatsächlich bestätigt bekomme.“
Claudia lachte kurz auf:
„Woher willst du dies den gewusst haben?“
Ich sah meinen Gast jetzt mit einem geraden Blick an:
„Myriam hatte es mir schon längst verraten.“
Claudia war entrüstet:
„Wann hat sie es dir gesagt? Warum weiß ich nichts davon?“
Ein breites Grinsen durchzog mein Gesicht:
„Sie hat es mir nicht gesagt. Sie hat es mir verraten. Durch das, was sie tat.“
Die junge Dame schüttelte verständnislos den Kopf:
„Was hat sie denn getan?“
Ich antwortete ihr nicht gleich, sondern stand auf und strebte zur Küche:
„Du kennst das Drama von Anfang an. Hast oft mitgelitten und geschimpft, wenn ich nicht weitergekommen war. Bei Myriam, oder nachher bei Jasmin. Aber über das spätere Geschehen habe ich mit noch niemand geredet. Auch nicht mit Stefan. Ich werde es dir jetzt erzählen. Es ist eine lange Geschichte. Ich hole uns erst einmal etwas zu trinken. Was möchtest du denn haben?“
„Ein Glas Wasser mit Apfelsaft, wenn du hast.“
Die Getränke waren rasch besorgt. Nun nahm ich auf meinen Lieblingssessel Platz und lud meinen Gast ein, es sich auf der Couch bequem zu machen.
„Es lässt sich so viel besser erzählen. Aber fang du erst einmal damit an, zu erzählen, was Jasmin gestern so von sich gegeben hat.“
Claudia nahm schnell einen Schluck aus ihrem Glas, setzte ihr feinstes Lächeln auf und begann zu erzählen:
Jasmin war gestern bei mir zu Gast. Wir hatten schon eine ganze Weile miteinander geplaudert, als ihr Gespräch auf die jüngste Vergangenheit kam. Ob ich etwas von Stefan wisse, erkundigte sie sich bei mir. Ich verneinte es. Ich hätte nichts mehr von ihm gehört, seitdem Myriam ihm einen letzten Korb gegeben hatte und fügte noch hinzu, er bereite jetzt seine Reise nach Amerika vor. Ziemlich besorgt wollte sie von mir wissen, ob er denn jemals wieder zurückkommen würde. Was sollte ich ihr da anderes sagen als:
Ich weiß es nicht. Stefan ist von Myriams Ablehnung ziemlich schwer getroffen. Am liebsten würde er bis an das Ende der Welt fahren und sich dort irgendwo vergraben.“
Jasmin schüttelte daraufhin den Kopf und sagte dann diesen bedeutsamen Satz:
„Was waren die beiden Männer doch so dumm. Wenn sie sich genau anders herum verliebt hätten, wären beide glücklich geworden.“
Genau das hat sie gesagt gehabt. Wahrscheinlich starrte ich Jasmin mit offenem Mund an. Vorsichtig erkundigte ich mich, was sie denn damit sagen wolle.
Sie blickte mich dann ganz unsicher an und fragte mich, ob ich denn nicht bemerkt habe, dass sie an Stefan großes Interesse gehabt hätte. Schon immer, fügte sie noch hinzu. Dann fuhr sie fort zu erklären, dass sie, nachdem ich bei ihm ausgezogen war, ihn ein paar Mal zu sich eingeladen habe. Er sei auch einmal zu ihr gekommen. Aber er hatte nur Myriam im Kopf gehabt. Schade, sagte sie noch, es hätte so schön werden können.“
Claudia unterbrach ihre Erzählung und wandte sich an mich:
„Du weißt ja, dass Jasmin hinter Stefan her war, war für mich kein Geheimnis gewesen.“.
Und sofort fuhr sie mit ihrem Bericht fort:
„Aber sie hatte mit ihrem Satz ja noch etwas anderes gesagt. Und auch, wenn es mir schon längst klar war, fragte ich dennoch nach:
„Wenn die beiden Männer sich genau anders herum verliebt hätten? Wem meinst du damit?“
Ich wollte es einfach ganz konkret von ihr hören.
Sie meinte, dass ich doch wisse, dass du hinter ihr her gewesen wärest. Der Krach habe schließlich die ganze Jugendarbeit durcheinandergebracht. Du wärest ja so hartnäckig bei ihr gewesen, dass sie nicht mehr mit dir habe zusammenarbeiten können. Dabei hättest du nie eine Chance bei ihr gehabt.
Auch damit hatte sie auf meine drängendste Frage nicht geantwortet. Deshalb hakte ich erneut nach. Sie habe doch eben gesagt:
„Sie hätten beide glücklich werden können.“
Mit ihr hättest du, Ted, dies ja offensichtlich nicht können. Jetzt bemerkte sie, glaube ich, dass sie etwas zu viel gesagt hatte. Aber sie wollte mir die Information wohl nicht länger vorenthalten und führte, nach einem kurzen Zögern, weiter aus, du hättest auch glücklich werden können. Mit Myriam eben. Sie wäre ganz furchtbar in dich verliebt gewesen. Aber du interessiertest dich ja nur für sie, Jasmin.
„Können Männer denn überhaupt nichts richtig machen?“,
stellte sie dann noch resigniert in den Raum.
Ich musste nun erst einmal einen Kloß im Hals herunterschlucken:
„Aber der Ted…“,
begann ich schon, unterbrach mich aber sofort. Denn fast hätte ich etwas verraten. Aber ich wollte es ihr nicht sagen. Ich wollte es Myriam nicht durch sie wissen lassen. Im Zweifel solltest du dies selber tun können. Jetzt wollte ich nur so viel wie möglich von Jasmin erfahren und so fuhr ich unbeirrt mit meinem angefangenen Satz fort:
„…hat sich leider nur für dich Interessiert.“
Dann warf ich die Bemerkung in den Raum, man habe nie etwas von Myriams Interesse an dir bemerkt. Ob sie sich da ganz sicher sei.
Jasmin hatte das kleine Zögern von mir wohl nicht registriert, oder vermutete vielleicht nichts Wichtiges dahinter. Fröhlich plauderte sie weiter.
„Ja freilich, wir haben uns oft darüber unterhalten“,
sagte sie. Myriam war auch von Anfang an davon überzeugt gewesen, dass du etwas für sie übriggehabt hättest. Jasmin habe dich einmal eine Zeitlang beobachtet. Auch sie glaubte damals, dass du Interesse an Myriam habest. Aber dann Interessiertest du dich plötzlich nur für sie.
Myriam wollte dann auf dich zugehen. Sie hatte bei dir angerufen. Mittwochsabends an deinem freien Tag. Aber du seist nicht ans Telefon gegangen. Einmal habe sie dich angerufen, nachdem sie mit mir gesprochen hätte. Ich hatte ihr gesagt, ich telefoniere gerade mit dir und du seist daheim. Aber du meldetest dich nicht. Als wenn du gewusst hättest, wer am Telefon gewesen sei und du sie nicht sprechen wolltest.
Danach hatte sie es aufgeben dich anzurufen. Ted, mir war sofort klar, was los gewesen war und sagte es Jasmin. Du habest eine zweite Telefonnummer gehabt. Eine, die du geheim gehalten hattest. Außer Stefan und mir hätten sie nur wenige gekannten. Du gingest abends nicht mehr an das „offizielle“ Telefon. Wegen der Jugendarbeit. Die Leute riefen dich manchmal noch um elf Uhr abends an. Da habe Myriam wirklich Pech gehabt.“
Claudia beendete ihre Erzählung und fixierte mich mit einem bösen Blick:
„Und du hast ebenfalls Pech gehabt. Warum hast du ihr die Nummer nicht gegeben, du Stoffel?“
Claudia schüttelte den Kopf:
„Ach, ihr dummen Männer. Du dummer Ted.“
Betroffen schwieg ich. Claudia hielt einen Moment die Stille aus, dann richtete sie sich auf und forderte mich auf:
„Jetzt fange aber an, mir deine Geschichte zu erzählen. Ich platze sonst noch vor Neugierde.“
Ich entspannte mich ein wenig, ließ mich bequem in den Sessel zurückfallen und begann ihrer Forderung nachzukommen:
„Nachdem ich den Gedanken an Myriam aufgegeben hatte und Jasmin den Hof machte, erkannte ich plötzlich bei Myriam jenes Verhalten, dass ich vorher so vermisst hatte. Vielleicht sah ich nun einfach mehr, weil ich ihr gegenüber nicht mehr so verkrampft war. Es gab mindestens vier Gelegenheiten die mir vieles, ja eigentlich alles verrieten. “
Claudia wurde ungeduldig:
„Halte keine langen Vorreden, ich will jetzt das Wesentliche hören.“
„Immer mit der Ruhe. Die zwei der vier wichtigsten Ereignisse möchte ich dir nun erzählen. Das erste Mal war, als ich einmal mit Stefan und mit Myriam im Taunus spazieren ging. Ich war völlig entspannt und plauderte mit ihr munter drauf los. Stefan fühlte sich wohl etwas ausgeschlossen. Er fing an, mich zu nerven, durch ständiges sinnloses Ablenken. Wie, weiß ich nicht mehr genau, ist aber auch egal. Auf jeden Fall bot ich ihm Prügel an, wenn er nicht aufhören würde. Aber, wie ein unartiges, kleines Kind machte er weiter. Und wie wir es von unseren gestrengen Vätern gewohnt waren, musste die angedrohte Strafe vollzogen werden. Stefan wusste dies und rannte nach seiner nächsten Attacke gleich los. Ich schaute ihm nur nach und beendete meinen Gedanken im Gespräch mit Myriam. Dann meinte ich noch zu ihr:
„So jetzt muss ich mich um Stefan kümmern.“
Und mit einem gewaltigen Satz fing ich an, dem schon davon Geeilten hinterher zu rennen. Ich holte ihn bald ein und versetzte ihm einen kräftigen, wenn auch freundschaftlichen Hieb zwischen die Schulterblätter. Wir blieben beide stehen und lachten. Myriam kam langsam nach. Ich sah ihr entgegen und konnte mich nicht mehr losreisen von ihrem Blick. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Mit ihren wunderbaren blauen Augen hatte sie mich fest fixiert und schaute mich an, mit einer Bewunderung, aber auch mit einem Stolz und einer Zufriedenheit, dass es mir ganz warm wurde. So tief ist noch nie ein Blick von ihr in mein Innerstes gedrungen. Es dauerte vielleicht drei oder vier Sekunden. Aber in dieser Zeit wurde mir bewusst, dass ich wohl einen Fehler gemacht habe, als ich Myriam aufgab.“
„Warum hast du sie nicht in den Arm genommen?“
Ich schüttelte den Kopf:
„Ich hätte es sicher gern getan. Bevor ich mich zu Jasmin verirrt hatte. Aber ich hatte nun keine Rechte mehr bei ihr, eben wegen Jasmin. Und dem Stefan durfte ich auch nicht in den Rücken fallen.“
„Schon wieder deine Ausreden!“
Als Getadelter blieb ich ganz ruhig. Kopfschüttelnd erwiderte ich meinem Gast:
„Nein, das ist keine Ausrede. Indem ich Jasmin Avancen gemacht hatte, habe ich die Beziehung zu Myriam aufgegeben. Was hätte ich denn nun tun sollen? Zu Myriam gehen und sagen:
„Nun ja, bei Jasmin hat es nicht geklappt. Dann versuche ich es jetzt bei dir.“
Lächerlich! Nein, wenn sie wirklich noch Interesse an mir gehabt hatte, dann hätte sie nun für unsere Beziehung kämpfen müssen. Sie hätte ein Zeichen setzen können, indem sie sich in meine Arme begeben hätte. Es war jetzt zu ihrer Sache geworden, etwas für unsere Liebe zu tun. Ich hatte alles verspielt! Aber vielleicht hat sie es wenig später dann auch tun wollen.“
Claudia schaute auf:
„Was war denn noch?“
„Ich komme gleich dazu. Ich möchte noch etwas ergänzen. Denn bei diesem Spaziergang haben sich zwei Dinge herausgestellt.
Zum einen: Myriam wusste offensichtlich, dass Stefan der störende Faktor in unserer Beziehung war. Ich glaube, für sie war meine Aktion gegen Stefan, so etwas wie seine gerechte Vertreibung, deshalb sah sie so zufrieden aus. Du musst wissen, danach haben wir uns nur noch ohne Stefan getroffen. Vielleicht meinte sie ja, ich hätte das Problem jetzt auch erkannt.
Zum anderen: Stefans Verhalten lässt darauf schließen, dass er sich zu diesem Zeitpunkt schon im Klaren war, wem das Interesse von Myriam galt. Aber es war ihm dennoch nicht möglich, sie freizugeben und uns zu helfen, zusammenzufinden. Das kann ich ihm aber nicht vorwerfen, dazu hätten wohl nur wenige die Größe gehabt.
Ich hatte dies alles, in diesem Moment noch nicht durchschaut. Dazu musste erst noch anderes passieren.“
Claudia schüttelte ungläubig den Kopf:
„Das wäre echt ein Ding, wenn es so wäre. Aber wie ging die Sache weiter. Nun erzähl doch endlich!“.
Ich frischte meine Erinnerungen an den wohl einzigen zweisamen Abend mit Myriam, bei mir zuhause auf:
„Es war nicht lange danach. Myriam rief bei mir an. Sie wolle mal vorbeikommen. Als ich nachfragte, sagte sie, sie hätte gern ein Foto von mir. Sie ergänzte aber gleich, es sei nicht für sie. Es sei für eine andere Dame, deren Namen sie nicht nennen wollte. Ich erklärte mich einverstanden.“
Die junge Dame auf meiner Couch staunte:
„Das ist ja der Hammer. Natürlich war es für sie! Los, wie ging es weiter?“
„Selbstverständlich glaubte ich auch nicht an eine andere Person, wer den auch? Myriam kam. Zum ersten Mal seit langem waren wir wieder zu zweit beieinander, zum ersten Mal bei mir Daheim. Ich packte meine große Fotokiste aus und gemeinsam betrachten wir meine abgelichteten Schätze. Natürlich wurde dabei auch viel erzählt und gelacht. So verging der ganze Abend. Dann ging sie wieder. Aber, sie nahm kein einziges Bild mit.“
Die Zuhörerin runzelte die Stirn und blickte verwundert drein:
„Na und. Was bedeutet das? Das scheint ja sehr wichtig für dich zu sein.“
„Claudia, überlege doch einmal. Stell dir vor, ich würde dich bitten, mir ein Bild von deiner Freundin zu besorgen. Sie würde dieser Bitte auch gerne nachkommen und zeigte dir eine große Anzahl von Fotos. Selbst, wenn sie dir allesamt nicht so richtig gefallen würden, würdest du dann wirklich gehen, ohne mir eine Auswahl von Bildern mitzubringen? Die Bilder waren offensichtlich nur ein Vorwand. Aber, was hatte sie vor? Oder erwartet?“
„Mensch, du hast recht. Aber was soll sie denn erwartet haben?“
„Ich weiß es nicht.“
Claudia wurde nachdenklich:
„Myriam verhielt sich wirklich komisch. Es war doch die Chance, reinen Tisch zu machen. Aber dennoch, wenn ich an das Weitere denke. Sie ist dir doch in den Rücken gefallen. Letztlich hat sie deine Wiederwahl zum Ausschussvorsitzenden verhindert. Das stimmt doch nicht mit all dem anderen überein.“
Ich nickte ihr lächelnd zu:
„Du hast recht. Wir hatte im Vorfeld dieser Wahl alles abgesprochen. Ich sollte noch für ein Jahre den Ausschuss leiten, bevor ich mich meiner Weiterbildung zum Ingenieur widmete. In der entscheidenden Sitzung hat sie dann Front gegen mich gemacht. Ohne ihren Rückhalt wurde ich nicht wiedergewählt. Aber du solltest wissen: Am Wochenende vor dieser Sitzung ist etwas geschehen, von dem ich annehmen muss, dass es Myriam sehr enttäuscht und gegen mich aufgebracht haben könnte. Ihr Verhalten an dieser Stelle ist im Übrigen der dritte Hinweis, der mir angezeigt hat, was ich ihr eventuell bedeutet haben könnte. Mehr möchte ich darüber nicht sagen.“
Claudia lachte auf:
„Uiii! Mehr musst du gar nicht sagen. Das hört sich sehr nach einem Eifersuchtsdrama an.“
Ich grinste:
„Ich möchte dazu weiter nichts sagen, aber deine Interpretation könnte schon eine sehr gute Erklärung der Situation darstellen. Tatsächlich könnte ich dir jetzt ein Gruppenfoto vom besagten Tag zeigen. Darauf würdest du wohl wirklich eine, dir unbekannte, weibliche Person erkennen.“
„Wer war sie?“
„Sie war unbedeutend. Zu unbedeutend, um lange auf mein Leben Einfluss gehabt zu haben.“
„Nun, wenn sie dazu geführt hat, dass Myriam so sauer reagiert hat, dann hat diese Dame schon einen bleibenden Einfluss auf dein Leben gehabt. Sie hat immerhin eure gute Beziehung beendet.“
„Das war aber noch nicht das Ende unserer Beziehung. Es gab noch ein letztes Gespräch. Ein Telefongespräch. Über dessen Inhalt möchte ich ebenfalls nichts sagen. Nur so viel, es ging darum, dass sie mich bat, etwas zu tun. Ich war aber nicht bereit dazu. Es ging um die Jugendarbeit. Um mich zu überzeugen, ihr entgegenzukommen, berief sie sich auf meine Gefühle zu ihr, von denen sie offensichtlich annahm, dass ich sie hatte. Ich solle es „ihr zuliebe“ tun.
Da machte ich emotional absolut dicht. Das schien mir ein plumpes appellieren an meine Gefühle zu sein, ohne dass sie gleichzeitig offenlegte, wie ihre Gefühle für mich eigentlich wären.
Ich möchte hier einmal etwas phantasieren. Stell dir doch einmal vor, sie hätte mich angerufen und darum gebeten vorbeikommen zu dürfen. Dann hätten wir dieses Gespräch unter vier Augen führen können. Ich hätte ihre Emotionalität erkennen können und eventuell ganz anders reagiert. Oder vielleicht hätte sie am Telefon nur sagen müssen:
„Bitte, tu es, weil ich mir so sehr wünsche, dass du es tust!“
Verstehst du, dieser Augenblick hätte die Möglichkeit gehabt, der Anfang von etwas Wunderbaren zu werden.
Aber so? Ich war einfach sehr verärgert.
Es erinnerte mich zu sehr an Therry. Sie hatte damals, lang bevor ich Myriam kennenlernte, auch um meine Gefühle zu ihr gewusst. Ständig appellierte sie an diese, um mich dazu zubewegen, ihr ihre Wünsche zu erfüllen. Sie machte mich damit zum Clown. Ich hatte aber bald ihr Kalkül erkannt und diese unsägliche Beziehung beendet.
In eine solche Situation hineinversetzt, fühlte ich mich in jenem Augenblick auch bei Myriam. Es musste Enden. So kam es auch. Danach hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Es ist doch wirklich seltsam. Je sicherer ich mir wurde, wie ihre Gefühle für mich zu sein schienen, desto mehr entfernte ich mich von ihr.“
Claudia schüttelte den Kopf und schaute mich an:
„Das ist ja wirklich krass. Ihr habt euch verloren, obwohl ihr euch wahrscheinlich gesucht habt. Was wirst du jetzt tun? Wirst du zu ihr gehen?“
Wieder starrte ich zum Fenster hinaus. Dann schaute ich Claudia an und sprach mit fester Stimme:
„In ihrer scheinbaren Makellosigkeit erhob ich sie in den Himmel. Dort war sie auch gut aufgehoben. Denn nun war sie unerreichbar für mich. Das entband mich davon, ihr weltlich zu begegnen. Doch, warum ist Myriam niemals heruntergestiegen aus diesem Olymp? Sie ist nicht aufgestanden und mir entgegengekommen. Ich hätte sie mit offenen Armen empfangen.“
Ich senkte meinen Blick und schüttelte traurig den Kopf. Nach einer kleinen Weile fuhr ich fort:
„Die Würfel lagen auf dem Tisch. Einer von uns beiden hätte sie nur greifen und werfen müssen. Sie wären in jeden Fall günstig für uns gefallen, doch das wussten wir nicht. So aber hat keiner die Verantwortung übernehmen wollen. War uns nicht stets irgendetwas anderes wichtiger gewesen, als unser beider Liebe? Unsere Angst? Unser Stolz? Unsere gemeinsame Arbeit? Oder was weiß ich! Wäre uns unser gemeinsames Glück das wichtigste auf der Welt gewesen, wären wir zusammengekommen. Ja, du hast recht, so haben wir uns verloren. Ich bin einer Göttin begegnet und habe nie die Leidenschaftlichkeit einer Frau in ihr gefunden“
Wieder schwieg ich für einen Augenblick. Dann fixierte ich Claudia mit meinen Augen und sprach mit fester Stimme weiter um ihre Frage zu beantworten:
„Nein, ich werde nicht zu ihr gehen. Denn mein Lebensweg ist unumkehrbar weitergegangen.“
Traurig kopfschüttelnd fügte ich hinzu:
„Es ist nicht mehr an der Zeit, eine Göttin zu lieben.“
Hintergrund der Geschichte:
Autobiographisches Schreiben. Schreibe die Geschichte, die du immer schreiben wolltest.
26,5 Seiten