Die Sommerferien sind vorüber. Ab heute geht es wieder in die Penne. Was wird die sechste Klasse wohl bringen? Eigentlich egal. Es gibt für mich keine Probleme in der Schule. So bin ich eher in gespannter Erwartung, als in ängstlicher Aufregung.
Ich betrete unseren alten Klassenraum, von dem ich weiß, dass er auch unser neuer sein wird und setze mich wahllos an einen der Tische. Herr Schlauch soll auch weiterhin unser Klassenlehrer blieben. Daher ist es egal, wo ich mich jetzt hinsetze, er wird uns sowieso nach seinen eigenen Vorstellungen umsetzen.
So kommt es dann auch. Der wohlbekannte Lehrer betritt den Schulraum und fordert uns sogleich auf, an der langen Fensterreihe, nebeneinander Aufstellung zu nehmen.
Die Carlo-Mierendorff-Schule ist eine recht neue Schule, mit hellen und großen Klassenräumen. Sie liegt am Rande meiner Wohnsiedlung. Aus den Fenstern habe ich einen weiten Blick auf das saftige Grün der Preungesheimer Felder.
Beim Aufstellen bekomme ich das Gefühl, dass wir deutlich mehr Schüler geworden sind, als im letzten Schuljahr. Ich schaue genauer hin. Nun entdecke ich einige, mir völlig unbekannte Gesichter in der Reihe der anwesenden Klassenkameraden. Alle schauen zum Klassenleiter, der gerade zu einer Rede ansetzt.
Da zwängt sich ein kleiner, schmächtiger Junge neben mir in die Aufstellung. Er hat ein sehr blasses Gesicht und auf seiner kleinen Nase sitzt eine große Brille, die gehalten wird von zwei mächtigen Segelohren.
Ich knurre ihn etwas an, mache ihm aber sogleich etwas Platz. Dann wende ich mich wieder dem zu, was unser Lehrer zu sagen hat: „…so wurden die Schularten, der drei Preungesheimer Schulen neu aufgeteilt. Die Theobald-Ziegler-Schule ist ab jetzt nur noch eine Grundschule und die Münzenberger Schule…“
„Hallo“, ertönt es leise aus dem Munde des blassen Klassenkameraden neben mir, „wie geht es dir?“
Was will denn jetzt dieser Zwoggel von mir, denke ich überrascht und antworte kurz und mürrisch: „Gut“.
Schon wende ich mich wieder der Erklärung des Unterrichtsleiters zu: “…. und so wurden die Haupt- und Realschüler dieser Schulen hier in unserer Schule in neuen Klassen zusammengefasst…“
Deshalb also die vielen neuen Gesichter kommt mir die Erleuchtung. Aus dem aufdringlichen Mund neben mir tönt es erneut: „Warst du schon hier in der Carlo?“
Langsam geht er mir auf die Nerven. Voller Zweifel frage ich in mich hinein:
„Wer ist das denn eigentlich?“
Ich schaue ihn mir etwas genauer an. Er ist sehr klein. Wahrscheinlich der Kleinste in der Klasse. Seine Kleidung sieht sehr gepflegt aus. Es ist nicht die Kleidung aus der Siedlung. Sein Haar ist voll, etwas dunkler als meines und in natürlicher Weise gewellt. Dennoch – ich kenne ihn nicht.
Warum tut er so vertraut? Ich finde keine Antwort auf diese Frage.
Aber er wartet noch auf eine Antwort von mir und fordert sie durch erneutes Fragen ein. Dieses Mal antworte ich ihm im ganzen Satz: „Ja, ich bin seit der Zweiten hier auf der Carlo.“
Herr Schlauch hat seine Ansprache beendet und fordert uns nun auf zu erklären, ob wir Wünsche hätten, wie wir gerne zusammensitzen möchten. In der Regel erfüllt er diese Wünsche auch. Aber bestimmte Paarungen versucht er zu verhindern, oder setzt sie direkt vor seinem Lehrerpult.
„Weißt du schon, mit wem du zusammensitzen möchtest?“, fragt der Schmächtige, mit der Penetranz eines windigen Verkäufers.
Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Seit Eberhard nicht mehr mit mir in einer Klasse ist, habe ich keinen so richtigen Freund mehr in der Klasse. So verliere ich mich gleich wieder in meine Gedanken. Vielleicht setze ich mich wieder mit Siggi zusammen. Aber der versteht oft den Unterrichtsstoff nicht. Dann fragt er bei mir nach. Und das stört mich gewaltig, da ich dann dem Unterricht nicht mehr richtig folgen kann. Lieber setze ich mich zu Peter. Mit dem verstehe ich mich ja eigentlich auch ganz gut. Weiter komme ich nicht mit meinen Gedanken, denn ich werde durch meinen penetranten Nachbarn aufgeschreckt.
„Weißt du es schon?“, erklingt es erneut neben mir.
„Was?“
„Nun, mit wem du zusammensitzen willst?“
Er reagiert auf meine offenen Gereiztheit mit einer selbstsicheren Bestimmtheit seiner Worte.
„Nein, ich habe mir noch keine Gedanken gemacht.“, mein Tonfall klingt jetzt aber schon leicht resignierend.
„Dann können wir uns doch zusammensetzen.“
Und noch bevor ich, mich der Situation ergebend, zustimmend mit den Schultern zucken und ein „Meinetwegen“ brummen kann, tritt er triumphierend aus der Reihe und meldet: „Wir wollen nebeneinandersitzen, Ted Balu und Jörg Schuster“
Der Lehrer hält verwundert inne und staunt über diese Forschheit. Und beim Anblick dieses kleinen schmächtigen Jungen entfährt es Herrn Schlauch spontan: „Du bist ja ein rechter Stoppelhopser!“.
Damit hat Jörg fortan seinen Spitznamen weg und wird ihn auch nicht mehr los. So nimmt er ihn einfach an. Später wird sich der „Stoppelhopser“ auf „Stopsi“ verkürzen. So wird ihn dann alle Welt nennen. Erst mit dem Eintritt in den Ehestand wird er sich wieder seinen Taufnamen zulegen.
Das war der Anfang meiner zweiten großen Freundschaft. Mit Stopsi trat ein ganz anderer Typus Mensch in das Freundschafts-Zweigestirn von Eberhard und mir ein und bereicherte es außerordentlich. Er führte uns aus dem Sandkasten hinaus und in die Welt hinein.
Hintergrund der Geschichte:
Autobiographisches Schreiben. Thema Freundschaften. Die sonderbare Vertrautheit von Stopsi, erklärte sich später dadurch, dass wir, Jahre zuvor, zusammen im Kommunionsunterricht gewesen waren. Es mag sein, dass wir dort auch hin und wieder Kontakt zueinander hatten. Ich hatte es vollkommen vergessen.
3 Seiten