Der Blinde

Nach der Geschichte „Blinder“ von Burkhard Spinnen

„Ein Wunder! Es war ein Wunder!“

Der 40jährige Rüdiger hob theatralisch die Hände zur Zimmerdecke und behielt mit verzücktem Blick, dem natürlich nicht zu sehenden Himmel entgegen, die Stellung.

„Die Vorsehung hat mir mein Augenlicht in dem Augenblick wiedergegeben, als eine große Not gegeben war. So war ich in der Lage jenes Kind zu retten, welches nur wenige Sekunden später von einem heranrollenden Auto zermalmt worden wäre. Halleluja!“

Peter schüttelte den Kopf.

„Halleluja! Wenn ich es nur glauben könnte.“

Rüdiger ließ langsam seine Arme sinken und schaute, nun nicht mehr so verzückt blickend, seinen Bekannten an.

„Was fällt Dir so schwer daran zu glauben? Kann ich den nun nicht wieder die Dunkelheit durchblicken, in die ich vor vielen Jahren gestoßen wurde?“

Peter behielt seinen skeptischen Blick bei und verzog etwas seine Mundwinkel.

„Ich weiß nicht, was heute geschehen ist. Aber ich habe in den letzten Jahren zu viel gesehen, was mich schon lange an deine Blindheit zweifeln ließ.“

„Du glücklicher, du konntest all die Jahre sehen. Ich aber erfuhr nur Dunkelheit. Was also wollen deine Augen erblickt haben, um dich Zweifeln zu lassen?“

Peter atmete tief durch. Wie sollte er es seinen Kameraden sagen, ohne ihn anklagend bloßzustellen. Längst schon vermeinte er, in der einen oder anderen Aktion seines vertrauten Schützlings, den er bei dessen
Tagesgeschäften in den letzten Jahren begleitet hatte, seltsam zufälliges bemerkt zu haben.

Ein kleiner fixierender Blick, bevor er, unbeholfen, wie er durch seine Blindheit zu sein schien, die teure Vase von der Auslage wischte. In dem Laden, in dem der Besitzer kein Nachgeben bei der Verhandlung um einen genehmen Preis zeigen wollte.

Oder wie er sehr zielstrebig, in seiner scheinbar blinden Unbeholfenheit, geradezu auf jene wirklich aufreizend gekleideten Dame zustrebte, um mit Ihr in der Straßenbahn zusammenzustoßen. Dabei, um offensichtlich ein Fallen der Dame zu verhindern, beherzt Zugriff, wo immer er hin fassen konnte. In Folge dessen seine Hände einen kleinen Augenblick zu lange an der Dame beließ, wo die Weiblichkeit ihre besondere natürliche Ausprägung hatte.

Die erboste Dame beruhigte sich sogleich, als sie die drei Punkte auf der gelben Binde sah. Sie bot ihm sogar ihre Hilfe an, dass er in der Enge der Bahn die Orientierung wiederfinden könne.

Peter erinnerte sich auch an verschiedenen Gelegenheiten in einem Kaufhaus, wo so manches kleine Teil wie zufällig an seine Hände geriet. Und mit einem scheinbar ungeschickten schnellen Wischer in einer seiner großen Einkaufstaschen verschwand.

Es waren immer Dinge gewesen, von denen Peter wusste, dass Rüdiger sie begehrte. Nichts Wertvolles. Kleine Dinge eben. Und keiner hat diesen blinden Mann so genau beobachtet, dass es jemals aufgefallen wäre. Als er es zum ersten Male sah, glaubte er, es sei ein Zufall gewesen. Dann aber sah er es immer wieder. Rüdiger klaute im Kaufhaus und es war eben nicht zufällig.

Er hatte geschwiegen. Er war sehr irritiert, aber er glaubte noch an seine Blindheit.

Und nun diese Heldentat. Jetzt spielte er sich auf, wie ein durchgeknallter religiöser Eiferer. Er, der noch niemals etwas von diesem, wie er sich ausdrückte, Quatsch gehalten hatte.

Peter war sich sicher, Rüdiger lenkte nur ab. Wie sollte er sonst seine wundersame Heilung begründen. Nein, Rüdiger hat schon eine geraume Zeit wieder sehen können. Warum aber hielt er es geheim? Wegen seiner Beute. So üppig war diese auch nicht. War er zu träge zum Arbeiten? Sicherlich nicht. Er hatte ja seinen anständigen Job in der Blindenbibliothek.

Was also war es, dass Rüdiger jenes Spiel hat spielen lassen? Es gab nur einen Weg dies herauszufinden.

„Rüdiger, mache mir nichts vor. Du kannst schon eine ganze Weile wieder sehen. Früher, da bin ich mir sicher, warst Du blind gewesen. Aber irgendwann konntest Du wieder sehen.“

Rüdiger schwieg einen Augenblick zu lang. Dann setzte er wieder sein verklärtes Gesicht auf, hob die Hände zur Decke und begann erneut mit seiner Litanei.

„Es war dunkel. Plötzlich sah ich Licht. Ein grelles Licht. Wie ein Engel senkte es sich auf mich herab. Es kam in der Form eines geflügelten Wesens immer näher und wurde gleichzeitig immer schwächer. Plötzlich konnte ich nicht nur sehen, sondern auch erkennen. Und ich sah das Kind. Und ich sah das Auto. Und ich fühlte, wie mich der Engel drängte. So war ich schnell genug. Ich konnte den kleinen Jungen vor der heranrollenden Gefahr retten. Es waren zwei Wunder die geschahen. Und sie wurden an mir und durch mich vollbracht. Halleluja!“

„Rüdiger!“

Sofort fielen die Arme des getadelten herunter und erstaunte Augen blickten Peter an:

„Warum glaubst Du mir nicht?“

„Weil ich weiß, was ich in den letzten zwei, drei Jahren beobachtet habe. Ich weiß es! Ganz bestimmt!“

Rüdiger fing noch einmal an die Hände zu heben. Aber nur bis zur halben Höhe. Dann ließ er sie wieder sinken und schaute Peter unsicher an.

„Warum, Rüdiger?“

„Es fing damit an, dass ich wieder Schatten sehen konnte. Schnell wurde mein Blick klarer. Aber ich konnte nicht glauben, dass ich wirklich wieder sehen konnte. Vielleicht war ja alles schnell wieder weg. Daher schwieg ich erst einmal. Aber das Augenlicht blieb.

Es machte mir Spaß, die Leute um mich herum zu foppen. Nicht Dich. Leute, über die ich mich ärgerte. Es machte mein Leben auch einfacher. Ich wurde umsorgt. Selbst die scharfe Tussy in der Straßenbahn kümmerte sich um mich. Erinnerst Du Dich noch. Sie hätte mich doch sonst nie gesehen.

So konnte ich mir etwas vom Leben zurückholen, das es mir eine ganze Weile vorenthalten hatte. So blieb ich in der Rolle.

Jetzt wo alles offenbar geworden ist, muss ich mich wieder einfinden, in die Welt der Sehenden.

Aber mal ganz im Ernst, Peter. Ist es nicht doch ein Wunder. Auch wenn es nicht in diesen Tagen geschah. Kein Arzt konnte mir bis heute sagen wie es geschehen konnte, dass mein Augenlicht wieder kam.“

Peter stutzte einen Augenblick. Dann riss er lächelnd die Arme hoch und rief:

„Halleluja, Rüdiger. Es ist ein Wunder.“ Sofort ließ er die Arme wieder sinken und schaute Rüdiger sehr ernst an: „Aber ab jetzt gehen wir wieder sehenden Auges durch die Welt!“

 


Hintergrund zur Geschichte: Aufgabe war es, in eine bestehende vorgegebene Geschichte eine Figur hineinzuschreiben, die diese Geschichte beeinflusst.


4 Seiten