Prolog.
Es war damals eine Zeit, in der nicht jedes Kind mit einem Handy in der Tasche herumlief. Es war nicht einmal so, dass in jedem Haushalt ein Telefon zu finden war. Wer telefonieren musste, der brauchte vor allen zwei Dinge: zwei Groschen und viel Geduld. Denn vor den wenigen öffentlichen Telefonhäuschen standen oftmals lange Schlangen geduldig wartender Menschen.
Es war eine Zeit, in der das Bild des Fernsehers noch schwarz/weiß war und keiner wusste, was ein DVD-Recorder, ein CD-Player, oder ein PC war. Und dennoch war es eine bunte, fröhliche Welt. Damals, zu jener Zeit, als sich diese Geschichte hat abspielen können.
Geheimnisvolles in der Nacht.
Schwere, dunkle Wolken versperrten den Sternen die Möglichkeit, wenigsten ein spärliches Licht zu spenden, auf das geheimnisvolle Geschehen, das in dieser unheimlichen und schwülen Nacht vonstattenging. Durch die gespenstige Finsternis konnte man den Widerhall scharrender und trippelnder Schritte hören. Schnaubender Atem, wie von schwer arbeitenden Menschen, begleitete diese dunkle Szenerie. Leise, kurzgesprochene Kommandos waren für Ohren bestimmt, deren Besitzer mit den Augen nicht auszumachen waren. Eine Tat, die das Licht zu scheuen schien, war offensichtlich im Gange.
Dann warf ein noch fernes Wetterleuchten einen schwachen, kurzen Lichtschein auf jener, nur schemenhaft zu erkennender Gruppe schwertragender Leute. Gleich wieder entschwanden sie den Augen heimlicher Beobachter, verborgen im Dunkel der Nacht. Denn so unbeobachtet und sicher sich diese geheimnisvollen Gesellen bei ihrem üblen Tun auch fühlten, zwei heimlich in der Nacht still, alles beobachtenden Augenpaare sahen ihren Treiben zu. Sie ahnten, dass Schlimme, das kommen sollte. Aber sie konnten im Moment nichts unternehmen. Zu groß war die Übermacht jener, im Dunklen handelnden Gestalten.
Bald hörte das Getrippel auf. Wieder wisperten leise Kommandos durch die Schwärze der Nacht. Ein aufkommender, böiger Wind erstickte aber sofort jedes Wort. Nur knarrende und knackende Geräusche waren für die heimlich lauschenden Ohren hörbar. Dann trat eine unheilvolle Stille ein, die vom steten Rauschen des stürmisch aufbrausenden Windes unterlegt wurde. Plötzlich ein Schmerzensschrei! Ein aufheulendes Gezeter. Im gleichen Augenblick wurde die Nacht von einer Quelle lodernden Lichtes erleuchte. Vom Schein, in den Himmel schlagender Flammen.
Ein ungewöhnlicher Sommertag.
Dietrich starrte gelangweilt vor sich hin. Er saß zusammen mit seinem jüngeren Bruder Max auf der schwarzen, steinernen Türschwelle seines Wohnhauses.
Der sehr sonnige Tag glitt langsam in den Nachmittag hinüber. Alles schien wie ausgestorben. Dort wo sonst die Kameraden Tag für Tag zusammen spielten, herrschte absolute Ruhe. Nur von der Straße her drang ab und zu das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos zu den beiden Jungs hinüber. Der tiefblaue, absolut wolkenlose Himmel überspannte alles und erzeugte eine friedliche Stimmung, in der man sich einfach irgendwo ins Gras legen, einen Grashalm zwischen die Zähne nehmen und vor sich hinträumen mochte.
An diesem friedlichen Tag hätte sich sicherlich auch nichts geändert, wenn Dietrich und Max einfach daheim geblieben wären und den Frieden auf eben jener beschriebenen Weise genossen hätte. Aber dann hätten sie wohl das größte Abenteuer ihrer frühen Kindheit verpasst. Sie wäre nicht in diese Falle gelaufen und Max wäre vielleicht niemals zu einem richtigen Indianer geworden.
Dietrich blickte zu seinem kleineren Bruder hinüber. Der Sechsjährige saß ebenso gelangweilt, wie er auf der anderen Seite der Türschwelle und schaute mit mürrischem Gesicht stur vor sich hin. Er war mit einer kurzen Lederhose bekleidet, die von breiten Trägern gehalten wurden. Ein kariertes ordentlich in die Hose gestecktes Hemd bedeckte seinen Oberkörper. Das Haar war gekämmt und hatte einen kerzengeraden Scheitel auf seiner linken Seite. Damit sah er gepflegter aus, als sein größerer Bruder. Dessen Haar war wie immer weniger stark in eine Ordnung gezwängt und wurde von einem wirr in die Stirn liegenden Pony abgeschlossen. Auch er trug eine kurze Lederhose, die jedoch durch einen breiten Gürtel gehalten wurde. Ein ebenfalls kariertes Hemd hing offen und frei über seinen Beinkleidern hinweg. Seine Füße steckten strumpflos in ein paar recht abgelatschten Sandalen. Eher zu sich selbst, als zu seinem Bruder, redete Dietrich vor sich hin:
„Die Anderen werden wohl ins Schwimmbad gegangen sein. Deshalb ist niemand zum Spielen da.“
Max horchte auf:
„Was ist denn ein Schwimmbad?“
Dietrich schreckte aus seinen grübelnden Gedanken auf. Sein Bruder stellte genau die richtige Frage. Denn auch er wusste nicht aus eigener Erfahrung, was es war, dass seine Kameraden so magisch anzuziehen vermochte. Dennoch versuchte er es mit seinen kargen Kenntnissen zu erklären:
„Es muss wohl ein großes Becken mit viel Wasser sein. So wie das Planschbecken im Luisa Park. Eben nur noch viel größer. Freddy hat mir gestern davon erzählt und auch, wie toll es im Schwimmbad sei.“
„Warst du schon einmal im Schwimmbad?“,
fragte Max weiter, ohne die eben gegebene Antwort irgendwie zu würdigen.
Der große Bruder stieß einen tiefen Seufzer aus. Wie konnte der Kleine nur eine solch dämliche Frage stellen.
„Das weißt du doch selber! Oder? Mutti wäre doch mit uns allen dahin gegangen. So, wie sie es immer tut! Also, warst du schon einmal im Schwimmbad?“
Max musste diese Frage natürlich verneinen, träumte jedoch weiter:
„Ich würde gerne einmal ins Schwimmbad gehen. Meinst du, Mutti geht einmal mit uns dahin?“
Dietrich zuckte mit den Schultern und warf ihm ein:
„Weiß nicht!“
entgegen. Ihm ging das Thema langsam auf dem Wecker. Deshalb wechselte er abrupt zu einem anderen Gesprächsstoff:
„Weißt du, was Freddy mir heute Morgen erzählt hat?“
Natürlich hatte der kleine Bruder keine Ahnung und zuckte nur mit den Schultern.
„Er hat mir erzählt, die Polizei wäre gestern Abend bei den Steinbrechers gewesen. Sie hätte dort etwas gesucht!“
„Bei den Steinbrechers?“,
erstaunt wies er dabei auf den nächsten Wohnblock. Er zeigte genau auf jene gleiche Wohnung des gegenüberliegenden Blocks, in der sie selbst, in ihrem Haus, wohnten.
„Ja natürlich, diese Steinbrechers! Wer hätte hier denn sonst etwas mit der Polizei zu tun?“
„Was hat denn die Polizei gesucht? Hat sie etwas gefunden?“
„Weiß nicht. Freddy hatte gestern Abend aus dem Fenster geschaut, und gesehen, wie vor dem nächsten Häuserblock ein Polizeiwagen vorgefahren war. Sofort waren zwei Beamte ausgestiegen und gingen in den Weg hinein, der zu den Wohnungen führt. Dort konnte er sie natürlich nicht mehr sehen. Er wollte schnell rüber huschen, um mehr mitzubekommen. Aber er durfte nicht mehr raus gehen. So hat er weiter vom Fenster aus beobachtet. Er hoffte, dass vielleicht jemand verhaftete werden würde. Das wollte er auf jeden Fall mitbekommen. Es wäre schon eine echte Sensation gewesen. Dann aber geschah etwas ganz anderes, wie er erzählte.“
Befriedigt sah Dietrich wie sein Bruder voller Spannung seiner Erzählung zuhörte. Er legte eine Pause ein, nur um seinen Zuhörer etwas zappeln zu lassen. Prompt reagierte Max. Er sprang auf und stellte sich vor den älteren Bruder und gestikulierte stark:
„Na los! Sag schon! Was war los? Haben die geschossen?“.
Max drehte sich zu dem gegenüberliegenden Haus und suchte nach Spuren.
Dietrich lachte auf:
„Du spinnst doch. Das hätten wir doch gehört!“
„Du spinnst selber! Was war denn nun los. Du erzählst mir ja nichts.“.
Verärgert stampfte er zurück zu seinem Platz zurück und setzte sich wieder.
„Ich wollte es dir ja gerade erzählen. Also sei still und höre zu!“
Dietrich streckte nun seinen Arm aus und zeigte auf ein Fenster des andren Hauses:
„Kurz nachdem Freddy die Polizisten nicht mehr sehen konnte ging da drüben bei den Steinbrechers plötzlich das Fenster auf. Sofort sprang ein Junge heraus. Freddy glaubt es war Erik. Dann sah er, wie eine zweite Person Erik ein dickes Bündel heraus reichte. Irgendetwas eingewickeltes in einer bunten Decke. Keine Ahnung was es war, das konnte er natürlich nicht sehen. Anschließend sprang auch der zweite Junge zum Fenster raus. Freddy kannte ihn nicht, es war keiner von den Steinbrechers. Jemand hat dann das Fenster wieder zu gemacht. Erik trug das dicke Bündel unter dem Arm. Beide schlichen eng an der Hauswand entlang in Richtung des Gebirges. Dort sind sie dann verschwunden. Die Polizisten sind bald wieder herausgekommen und weggefahren. Ohne jemanden verhaftet zu haben. Heute Mittag hat Freddy von seinem Bruder Harry erfahren, dass die Polizei dort drüben etwas gesucht hätte. Was genau, wusste dieser auch nicht. Mehr hat Freddy nicht erzählt.“
„Vielleicht wusste er ja auch nicht mehr.“,
Dietrich schüttelte energisch den Kopf:
„Ach was, Freddy ist schon so alt, der weiß doch immer alles.“
Max sinnierte gleich weiter:
„Schade, dass er jetzt im Schwimmbad ist, so können wir ihn nicht danach fragen.“
„Was soll´s! Wir werden sicher mehr erfahren, wenn er wieder daheim ist.“
Dietrich beendet damit nun auch dieses Thema. Wiederum ohne jeglichen Übergang schlug er eine ganz andere Richtung ein:
„Das war ein heftiges Gewitter heute Nacht. Manchmal hat es so laut gedonnert, dass ich richtig Angst bekommen habe. Aber am liebsten wäre ich doch aufgestanden und hätte zum Fenster rausgeschaut. Um die ganzen Blitze zu sehen. Die finde ich nämlich das Schönste am Gewitter.“
„Ich auch!“
Dietrich lachte auf:
„Wie willst du denn die Blitze sehen können? Du kriechst doch jedes Mal schon beim ersten Donnerschlag unters Bett. Dort wartest du zusammen mit deinem Stoffpudel Flocki bis alles vorbei ist. In der letzten Nacht hast du es doch auch wieder so gemacht.“
Max wurde verlegen und sackte etwas in sich zusammen. Triumphierend beobachtete Dietrich ihn genau. Aber dann richtete Max sich entschlossen wieder auf:
„Das ist doch gar nicht wahr. Ich habe überhaupt keine Angst vor dem Gewitter. Nur der Donner erschreckt mich manchmal etwas. Aber ich krabbele deswegen doch nicht unters Bett!“
„Ja! Ja! Weswegen habe ich Flocki dann unter deinem Bett gefunden?“
Nun war es Max, der schnell das Thema wechselte:
„Ach, eigentlich würde ich jetzt gerne mit unseren Kameraden spielen.“
Dietrich zuckte mit den Schultern. Das war natürlich auch sein Wunsch. Doch was konnte er machen? Er konnte sie ja nicht herbei zaubern.
Und sogleich tauchte seine Phantasie in eine Welt, in der alles möglich war. Er schwang gedanklich einen Zauberstab und alle waren da: Freddy, Ecki, Siggi, Harry, Mani, Helge, Olaf, Edith, Mercedes, Dagmar und Puppa tummelten sich im bunten Treiben auf der Wiese und luden ihn zum Mitspielen ein. Er hörte sie „Meister gib uns Arbeit“ singen und sah zu wie sie wild gestikulierend ihren vorher vereinbarten Beruf dem Meister vorstellten. Fast schon wäre er aufgestanden um zu ihnen auf die Wiese zu gehen. Aber dann war der Traum schon wieder vorbei. Er fand sich noch immer allein mit seinem Bruder auf der Türschwelle seines Hauses. Da kam ihm eine Idee, die er auch gleich von sich gab:
„Wenn hier keine Freunde da sind, müssen wir eben woanders nach welchen suchen. Wir könnten ja mal ums Haus gehen. Vielleicht sind ja Ali und Muck daheim. Die sind zwar fast schon erwachsen und spielen nicht mehr so richtig mit uns, aber sie erzählen immer so tolle Geschichten.“
Der kleine Bruder war sofort begeistert:
„Ja, lass uns rüber gehen! Weiß du, sie haben mir vor ein paar Tagen erzählt, wie sie da drüben in eines der neu gebauten Häuser hineingeschlichen waren. Das muss sehr spannend gewesen sein, da sie mit den Arbeitern Versteck spielen mussten. Vielleicht können sie uns beim nächsten Mal ja mitnehmen. Das fände ich echt klasse.“
Diese Begeisterung nach Abenteuer überraschte ihn ein wenig. War sein Bruder doch sonst immer so ängstlich. Nun aber war er sofort aufgesprungen und wartete ungeduldig darauf, dass sich Dietrich auch erheben würde. Aber irgendwie ginge es dem Älteren dann doch zu schnell. Die Hitze lag schwer auf ihm und eigentlich hätte er auch nichts dagegen gehabt, gar nichts machen zu müssen. Aber in eines der Neubauten zu schleichen war natürlich etwas. Endlich gab er sich einen Ruck und erhob sich. Langsam schlenderten sie den kleinen Weg am Haus entlang, der an ihrer Wohnung vorbeiführte. Sie wollten gerade um die Ecke biegen, da hörten sie ein kräftiges Pochen am Küchenfenster ihrer Wohnung.
Oma, dachte Dietrich nur. Und schon öffnete sich das Fenster und seine Großmutter schaute hinaus:
„Wo wollte ihr denn hin?“
„Wir wollen schauen, ob Ali und Muck da sind. Vielleicht spielen die mit uns.“
„Ihr sollt aber vor dem Haus bleiben. Bald gibt es Abendessen. Und da will ich nicht, dass ihr weg seid.“
„Ach Oma, hier ist doch niemand. Vielleicht sind ja auf der anderen Seite welche. Du kannst uns ja dann vom Balkon aus hereinrufen.“
Die Großmutter war gar nicht begeistert von dem Vorschlag und offensichtlich wollte sie ihn brüsk ablehnen. Aber da kam ihre Mutter hinzu:
„Lass sie ruhig gehen! Sonst kommen sie am Ende noch rein und toben in der Wohnung rum.“
Dann wandte sie sich ihren Söhnen zu und sagte mit strenger Stimme:
„Ihr geht aber nirgendwo anders hin. Wenn auf der anderen Seite niemand ist, kommt ihr sofort zurück. In drei Stunde müsst ihr reinkommen! Ich werde euch dann rufen. Habt ihr mich verstanden?“
Natürlich hatten sie es verstanden und sie machten sich schleunigst auf den Weg zu den Freunden. Dietrichs Lebensgeister waren jetzt wieder voll erwacht. Deshalb schlug er seinem Bruder einen Wettlauf vor:
„Wer zuerst an der Haustür von Ali und Muck ist.“
Schon rannte er los. Max reagierte natürlich nicht schnell genug. Dietrich war schon um die Ecke geeilt, als auch er anfing zu rennen und dabei lauthals protestierte:
“ Du bist gemein! Warte auf mich! Ich kann doch nicht so schnell laufen wie du!“
Der große Bruder stellte sich taub und eilte davon. Er rannte neben dem Haus vorbei, die breite Treppe zum nächsten Häuserblock hinunter und dann nach links zum nächsten Hauseingang. Dort angekommen klatschte er an der Haustür ab:
„Erster!“.
Dann schaute er sich um. Von Max war nichts zu sehen. Verwundert lief er ein kleines Stück des Weges zurück. Nur einen Augenblick später hörte er ein wütendes Geschrei von Max. Es kam hinter dem großen Gebüsche hervor, welches ihm die Sicht auf die Treppe verdeckte. Er eilt zum Ort des Geschreies. Kaum um das große Gebüsch herumgekommen, sah er das ganze Elend:
„Was ist denn jetzt schon wieder los?“
Sein kleiner Bruder saß in der Mitte des Abganges und starrte auf sein Knie. Mit beiden Händen hielt er sich das verletzte Körperteil. Ein kleines rotes Rinnsal floss zäh und langsam an seiner Wade hinunter. Tränen rannen über seine Wangen. Sein Gesicht wurde wutverzehrt, als er seinen Bruder kommen sah. Sofort fing er schniefend an zu schimpfen:
„Du bist daran schuld! Warum bist du denn so schnell weggerannte. Deshalb bin ich auf der Treppe hingeflogen. Jetzt blute ich. Ich werde das der Mutti sagen!“
Genervt verdrehte Dietrich die Augen:
„Willst du wegen eines so kleinen Kratzers wirklich einen solchen Aufstand machen. Ich dachte, du willst ein Indianer sein. Die kennen keinen Schmerz. Du bist wohl eher eine Memme!“
Das saß. Erbost sprang der eben noch heulende auf und stampfte wütend mit seinem lädierten Bein:
„Ich bin keine Memme. Und es tut auch überhaupt nicht mehr weh! Du bist selber eine Memme!“
„Hach, ich bin eine Memme? Habe ich denn gerade geheult? Nein, das warst du allein. Jetzt komm endlich, wir wollen doch zu Ali und Muck!“
„Was wollte ihr denn von ihnen?“,
ertönte es auf einmal hinter Dietrich. Erschrocken fuhr er herum. Aus dem Erdgeschossfenster schaute die Mutter der beiden gesuchten Jungen. Offensichtlich hatte sie das Geschrei des Bruders gehört und war zum Fenster geeilt. Verwirrt stammelte Dietrich:
„Guten Tag Frau Bauer, sind denn Ali und Muck daheim. Wir wollen ein bisschen mit ihnen spielen. Bei uns drüben ist leider niemand zu Hause. Die Anderen sind wohl alle ins Schwimmbad gegangen.“
Die braungelockte, schmale Frau zog sofort ein bedauerndes Gesicht:
„Oh, da habt ihr aber Pech. Meine Söhne sind irgendwo unterwegs. Ich weiß nicht wo. Ihr müsst euch leider andere Spielkameraden suchen.“
„Oh das ist ja wirklich Schade!“
Die Enttäuschung stand Dietrich ins Gesicht geschrieben. Einen Augenblick lang stand er drucksend herum. Er wusste nicht was er noch sagen sollte. Dann drehte er sich zu seinem Bruder und bestimmte traurig:
„Komm, wir gehen zurück!“
Da musterte Frau Bauer Max mitleidig:
„Dein Knie schaut ja furchtbar aus. Möchtest du nicht reinkommen? Dann kann ich es dir sauber machen. Und ein Heftpflaster werde ich wohl auch noch haben, um es dir darüber zu kleben.“
Stolz richtete sich der sich immer wieder an seinem Knie reibende Max auf:
„Nein! Das ist nicht nötig! Es tut überhaupt nicht weh! Ich bin doch ein Indianer!“
Im gleichen Augenblick drehte er sich um und rannte schleunigst jene Treppe hinauf, die in Richtung Heimat führte. Das tat er so vehement, als ließ es sich nur so verhindern, dass Frau Bauer ihm ihre Fürsorge angedeihen lassen könnte. Neben seinem Haus blieb er stehen, drückte sich an die große fensterlose Seitenwand und lugte vorsichtig um die Ecke, zu seinen Bruder zurück.
Dieser schaute ihm einen Augenblick nach, drehte sich noch einmal zu der fürsorglichen Frau, die lachend am Fenster stand und verabschiedete sich höflich von ihr.
Dann aber lief auch er die Stufen hinauf. Neben dem Haus traf er wieder auf seinen kleinen Bruder. Dieser hatte sich mittlerweile im Schatten der Hauswand auf den Boden gesetzt. Seine Knie waren an die Brust gezogen und wurden von seinen Armen fest umschlossen. Er schaute Dietrich an:
„Bist du auch schon da! Was hast du denn da so lange gemacht?
Hier im Schatten war es angenehm kühl. Dietrich lehnte sich ihm gegenüber an eine Wäschestange und antwortete nicht auf die Fragen seines Bruders. Max wurde ungeduldig:
„Was wollen wir jetzt machen?“
„Ich weiß es nicht. Wir können ja rein gehen.“,
schlug Dietrich vor.
„Nein!“,
schrie sein Bruder sofort auf und fügte hoffnungsvoll hinzu:
„Vielleicht ist ja jetzt jemand vor dem Haus!“.
Dietrich seufzte:
„Ich schaue einmal nach.“
Langsam trottete er am Haus vorbei und überschaute das gesamte Spielareal. Niemand war zu sehen. Ebenso langsam schlurfte er wieder zurück:
„Nein, da ist niemand vor dem Haus.“
„Bist du sicher?“
„Geh doch selber gucken!“
Aber bei dieser Temperatur, war es dem kleinen Möchtegernindianer doch angenehmer, seinem Bruder zu glauben. Er machte stattdessen einen ganz anderen Vorschlag:
„Wir können ja ins Gebirge gehen.“
Augenblicklich wollte Dietrich diesem Wunsch zustimmen. Aber dann fiel ihm die Ermahnung seiner Mutter wieder ein:
„Wir sollen entweder vor dem Haus oder hinter dem Haus bleiben. Da, wo Mutti uns sehen kann. Hast du das vergessen?“
Aber Max war jetzt ganz besonders schlau:
„Wir können ja nach da drüben gehen, da kann sie uns vom Balkon aus sehen.“
Dabei wies er in eine Richtung, in der man im Hintergrund einige der Rohbauten der Jaspertstraße über das Gebirge ragen sehen konnte. Noch immer regte sich ein Widerstand in Dietrich. So hatte es Mutti sicher nicht gemeint. Aber auf der anderen Seite reizte es ihm schon ein wenig, durch den wilden Busch zu Streifen. So drückte sich ein
„Na gut“
mühsam aus seinem Mund. Max sprang sofort auf:
„Komm! Vielleicht finden wir ja etwas.“
„Was willst du denn finden?“
„Ich weiß es nicht, lass uns einfach einmal gucken.“
Das Gebirge.
Sie wohnten in einer Neubausiedlung im Nordosten von Frankfurt. Die zum Teil noch im Bau befindlichen Häuserblocks stachen in parallelen Reihen zu beiden Seiten ab, von den sich zu einem großen Viereck vereinenden Straßenzügen ihrer Wohnstätte. Im Inneren des Wohngebietes trennten, gebildet aus der ausgehobenen Erde der Neubauten, langgezogene Hügelketten wie ein riesiges Gebirge die beiden sich gebildeten Siedlungsteile. Die dort lebenden Kinder eroberten sich diese hüglige Landschaft als einen riesigen Abenteuerspielplatz. Sie gingen oftmals in die Berge herum, um irgendetwas zu finden. Und oft hatte sie Erfolg dabei. Denn die Bauarbeiter entsorgten unbrauchbar gewordenes in diese wilde Natur hinein. Diese weggeworfenen Utensilien rotteten dann vor sich hin, bis sie vielleicht von jemandem entdeckt wurden.
Da gab es löchrige Eimer, große rostige Schrauben, manchmal sogar mit einer Mutter dran, Stahlbänder, die einst Bündel von Steinen zusammengehalten hatten und vieles mehr. Bei den Kindern am beliebtesten jedoch waren die eisernen, zweispitzigen Bauklammern, die sie Pickel nannten. Diese sahen aus, wie übergroße Heftklammern und dienten beim Gerüstbau als wichtiges Hilfsmittel. Mit ihrer Hilfe konnte man sehr gut in der Erde graben. Wie dem auch sei, alles Verborgene wollte gefunden werden. Also zogen sie los, um es zu entdecken.
Zum Einstieg nutzten Dietrich und Max ihren normalen Pfad. Diesen hatte sie mit ihren Freunden dem Berg abgetrotzt, indem sie mit den Schuhspitzen kleine Tritte in die lehmige etwa zweieinhalb Meter hohe Bergflanke getreten hatten. Zum Emporkommen mussten sie ihre Hände mitbenutzen, mit denen sie sich an großen, starken Pflanzen an des Pfades Rand festhielten. Dietrich ging voran und wartete bis Max nachgekommen war, der wie gewöhnlich etwas mehr Zeit zum Hinaufgehen benötigte.
In der Zwischenzeit orientierte er sich ein wenig. Von seinem Standpunkt aus konnte er alles recht gut überblicken, da er nun auf der größten Anhöhe des Gebirges stand. Wenn er in Richtung Jaspertstraße schaute, die, was er natürlich noch überhaupt nicht ahnen konnte, in nördlicher Richtung lag, wusste er sein Haus hinter sich. Nach rechts, konnte er die Siedlung hinaufsehen. Dieses „hinauf“ ergab sich daraus, dass das gesamte Gelände in jener Richtung tatsächlich etwas anstieg. Er sah drei eng ineinander übergehende Hügelketten, die sich bis zum oberen Rand der Siedlung zogen. Eine vierte, ihm am nächsten liegende Kette, spaltete sich bald von den anderen dreien ab, sodass sich dadurch einzelne Täler gebildet hatten. Vor ihm lag eine weite Hochfläche, auf der sich eine große Anzahl ungeordnet angehäufter, ineinander übergehender Erhebungen abzeichneten. Es waren keine einzelnen Ketten erkennbar. Zum unteren Ende der Siedlung konnte Dietrich nicht blicken, da der Häuserblock in dem Ali und Muck wohnten doppelt so lang war, wie ihre Wohnreihe. So konnte das Gebäude mit seinen vier Eingängen den Blick auf die Siedlungsmitte des unteren Teils versperrte. Dietrich wusste jedoch, dass sich dort zwei eng beieinander liegenden Hügelketten bis zum unteren Rand der Siedlung zogen.
Soweit er die Hochebene überblicken konnte war sie mit dichten wildwachsenden Pflanzen überwuchert. Schmale Pfade waren zu erkennen, die jene Wege markierten, welche die Kinder bei ihren Erkundungstouren ständig benutzten.
Max hatte jetzt auch seinen Aufstieg geschafft. Sofort fragte er:
„Wohin müssen wir jetzt gehen?“
Dietrich zeigte ihm einen Pfad, der weiter vorne durch eine Kuhle mit dichten blütenreichen Gebüschen führte. Von dort aus würden sie dann zum Rand des Gebirges gehen.
„So kommen wir dorthin, wo Mutti uns sehen kann.“
Gleich schritten sie den vorgeschlagenen Pfad entlang. Am Wegesrand standen die Heckenrosen mit ihren rosa oder gelben Blüten, verschiedene Doldengewächse, Gebüsche mit riesigen Blättern, oder auch bunte, hochgewachsene, stachlige Disteln von denen die Brüder nie genau wussten, ob sie ihre Schönheit bewundern, oder ihre Stacheln fürchten sollten. Heute entschied sie sich für das Bewundern dieser seltsamen Pflanzen. Max und Dietrich waren schon eine kleine Weile das Weges geschritten, als plötzlich der kleine vorauseilende Bruder stehen blieb:
„Hier können wir nicht weiter. Wir müssen zurück!“
„Warum denn?“
„Siehst du es denn nicht? Hier sind Brennnesseln am Rand. Die versperren uns den Weg!“
Ungeduldig drängte Dietrich sich an Max vorbei. Er kannte diese fiesen Nesseln, vor denen er, genauso wie sein Bruder sehr viel Respekt hatte. Aber er wusste auch, dass es jene gefürchteten Pflanzen an dieser Stelle noch nie gegeben hatte. Es brauchte nur einen kurzen Blick auf diese Pflanze zu werfen, schon wusste er Bescheid:
„Das sind keine Brennnesseln!“
Max wusste es besser:
„Natürlich sind das Brennnessel. Ich kenne sie doch!“
Dietrich riss schnell einen Zweig jener Pflanzen ab. Ehe Max sich versah, fuhr er ihm damit über den Arm. Der kleine Bruder sprang sofort zurück und schrie wie verrückt:
„Aua, das tut doch weh! Bist du wahnsinnig geworden? “
Mit spöttischem Lächeln sah er ihn an:
„Das bildest du dir doch nur ein. Es kann gar nicht wehtun.“
Und zur Bestätigung zog er sich nun den Zweig über seinem eigenen Arm.
„Siehst du! Es tut überhaupt nicht weh! Komm ich zeige dir etwas. Siehst du die weißen Kelche überall an der Pflanze? Wenn diese vorhanden sind, dann brennt die Pflanze nicht. Es sind Taubnesseln. Du kannst dir einen solche Kelch abpflückst und daran saugen. Dann schmeckst du etwas Süßes.“
Während er sprach, machte er es ihm vor. Noch immer war sein Bruder skeptisch. Bald merkte er jedoch, dass sein Arm tatsächlich nicht zu jucken begann. Nun traute auch er sich, eine der Blüten zu pflücken. Neugierig führte er sie zu seinem Mund.
„Nein! Nicht so! Du musst am anderen Ende saugen. Da wo die Blüte eine kleine Röhre hat und wo sie ein bisschen gelb ist.“
Nun hatte er es verstanden. Begeistert genoss er diesen winzig kleinen Moment süßes. Dietrich ließ ihm einen Augenblick gewähren, während Max weitere Kelche genoss. Dann begann er aber zu drängen:
„Komm, lass uns weiter gehen. Aber merke dir: Vor dieser Pflanze brauchst du keine Angst zu haben. Achte auf die weißen Kelche!“
Sie folgten nun den Weg bis zum Rand des Gebirges. Dietrich blieb stehen und schaute sich ein wenig um. Vor allen achtete er auf den Balkon seines Elternhauses. Von hier aus konnte er ihn sehen. Also konnte man diese Stelle auch von Balkon aus sehen.
„Hier bleiben wir! Schauen wir, ob wir etwas finden können!“
Dietrich merkte sofort, dass Max mit seiner Entscheidung nicht ganz einverstanden war. Dieser wäre viel lieber weiter herumgestrolcht. Aber Dietrich erinnerte ihn an das Versprechen. Offensichtlich wenig begeistert warf Max ihm ein gequältes
„Na gut“
hin. Einen Augenblick schaute er sich um. Dann begann er den Abhang etwas hinunter zu klettern. Bald hatte er einen Vorsprung erreicht. Dietrich sah was seinen Bruder so angezogen hatte: Eine Stelle tonartigen Bodens. Diesen sonderbaren Ton liebte der Bruder ganz besonders gern und er begann sofort die zähe, gräulich blaue Masse freizulegen. Anschließend kratzte er mit seinen Fingern diese besondere Erde aus ihrem natürlichen Lager und formte mit seinen Händen kleine Lehmkugeln, die er säuberlich nebeneinander aufreihte. Schon nach kurzer Zeit war er total besudelt.
Er war so in dieser Arbeit vertieft, dass er seinen großen Bruder überhaupt nicht mehr wahrzunehmen schien. Deshalb streifte dieser ein wenig umher. Dabei kam er an eine Stelle, von der aus er bis an das untere Ende der Siedlung blicken konnte. Plötzlich stockte er. Was war denn das? Mitten im flacheren Teil der Wildnis, fast direkt neben dem übernächsten Häuserblock, stand ein Auto. Er erkannte das Modell sofort. Es war eine Isetta. Das Sonderbare an dem Auto war nicht nur, dass es dort eigentlich gar nicht stehen durfte, sondern auch, dass es ausgebrannt aussah.
Die ausgebrannte Isetta
Das war nun wahrlich etwas äußerst Interessantes. Etwas, dass sofort untersucht werden musste. Dietrich wollte sofort zum Auto hinunter gehen. Am liebsten alleine. Aber er musste auf seinem Bruder aufpassen. Dennoch, die Versuchung war sehr groß. War Max nicht gerade so sehr in seinem Tun vertieft, dass er es vielleicht gar nicht bemerken würde, wenn er schnell nach dort unten eilen würde?
Schon wollte er heimlich davonziehen. Doch dann kamen ihm Skrupel. Was, wenn er ihn dann doch suchen würde? Er würde ihn nicht finden. Dann würde er heimgehen und Mutti alles petzen. Das würde sehr viel Ärger geben. Nein, das wollte er nicht riskieren. Jetzt war ihm klar, dass er sich nicht davonschleichen konnte. Er rief nach seinem nicht sichtbaren Bruder:
„Max, komm doch einmal her, ich habe etwas gefunden!“
„Was hast du denn gefunden?“
„Das verrate ich dir nicht, du musst selber gucken!“
„Ich habe keine Lust! Ich bin beschäftigt!“
„Dann bleibe eben da, wo du bist! Ich gehe auf jeden Fall auch allein da runter!“
Jetzt wurde sein Bruder offensichtlich hellhörig:
„Wohin willst du denn runtergehen?“
„Das willst du doch gar nicht wissen. Du hast ja was anderes zu tun.“
„Nein, ich bin jetzt fertig. Warte auf mich! Ich komme!“
Er brauchte nicht lange zu warten. Schnell kam Max, vollkommend mit Erde besudelt, angelaufen. Nun stand er neben seinem Bruder und sah dessen Entdeckung sofort:
„Da steht ja ein Auto. Das ist ja ganz schwarz!“
„Ja, es muss gebrannt haben.“
Mit einem Male krallte sich Max an dem Arm von Dietrich fest:
„Gebrannt? Das ist doch gefährlich. Lass uns hierbleiben! Ich habe Angst!“
„Ach was, das Feuer ist doch schon längst aus. Oder siehst du irgendwo noch Rauch? Wir gehen jetzt da runter!“
Unbeirrt setzte Dietrich sich sofort in Bewegung. Schon längst hatte er einen geeigneten Weg nach unten ausgemacht. Max schaute ihm nachdenklich nach. Er bewegte sich nicht.
„Nun komm schon! Wenn da etwas gefährlich ist, hauen wir sofort wieder ab!“
Max atmete tief ein und machte sich selber Mut:
„Ich bin doch ein Indianer, ich habe keine Angst!“
Dann setzte er sich in Bewegung um seinen Bruder zu folgen. Er stellte sich aber sehr ungeschickt an. Mit einem Mal zog es ihm die Füße unter seinem Leib weg. Er setzte sich auf seinen ledernen Hosenboden und begann den Hang hinunter zu rutschen. Er schrie erschrocken auf. Aber schnell merkte er, dass er alles unter Kontrolle bringen konnte. Nun fing es an ihm Spaß zu machen und er glitt den ganzen Hang hinab. Unten angekommen ruckte er noch ein, zwei Mal nach vorne, um auch das letzte, weniger schräge Stück weitergleiten zu können. Aber er steckte fest. Bedauernd stand er auf und trottete zu Dietrich hinüber.
„Wo müssen wir jetzt hingehen?“.
Der große Bruder hatte sich Richtung gemerkt und zeigte sie ihn:
„Dort hin, neben dem nächsten Haus. Es ist nicht weit.“
Aber bald sah alles etwas anders aus. Sie waren fast vollständig am nächsten Häuserblock vorbei gegangen, da kamen sie nicht weiter. Vor ihnen war alles voller Brennnesseln. Max beäugte sie vorsichtig:
„Das sind aber richtige Brennnesseln. Die haben nichts Weißes.“
„Richtig! Wir kommen hier nicht vorbei. Bleib hier stehen! Ich suche uns einen Weg.“
Dietrich entschied sich, in Richtung des Gebäudes einen Durchlass zu suchen. Denn kurz vor dem Haus wird die Wildnis ja wohl einen Weg freihalten, mutmaßte er. Tatsachlich erspähte er wenige Augenblicke später eine Lücke zwischen dem Haus und dem Pflanzenmeer. Er eilte hin, und wäre beinahe abgestürzt. Denn leider zog sich dort eine tiefe, sehr steile Grube am Haus entlang, die sich geschickt hinter ein paar kleinen Büschen versteckt hatte. Im letzten Augenblick erkannte er die Gefahr. Nun stand er direkt vor dieser Grube. Ihm war sofort klar, dass er in diese Grube nicht hinunter klettern konnte. Das wäre viel zu gefährlich gewesen. Aber die gefürchteten Pflanzen reichten fast bis an deren Rand heran und gaben keinen Weg frei. Hier war nichts zu machen. Er musste zurückgehen und einen anderen Weg suchen.
Eilig drehte er sich um. Plötzlich tauchte sein kleiner Bruder vor ihm auf, der ihm unbemerkt gefolgt war. Er hatte jedoch so viel Schwung in seiner Bewegung, dass er diesen sofort umstieß. Er fiel genau in das Gebüsch der brennenden Pflanzen hinein. Zunächst begriff dieser überhaupt nicht was geschehen war. Aber dann entwickelten die Pflanzen ihre bösartige Wirkung und er wurde sich seiner Lage bewusst. Er kam nicht hoch, denn überall, wohin er fassen wollte, waren die ihn peinigenden Gewächse. Dietrich begriff auch nicht sofort die missliche Lage seines Bruders und begann lauthals zu lachen. Er fand es einfach zu komisch, wie er dort saß und sich mühte.
„Zieh mich hier raus! „,
schrei Max ihn an.
Da erst ergriff er die ihm entgegengestreckte, hilfeerwartende Hand und half ihm wieder auf die Beine. Max jedoch kannte keine Dankbarkeit. Mit wütenden Tränen in seinen Augen stürmte er sofort auf Dietrich los und fing an, ihm fürchterlich an seinen Beinen zu treten. Dabei schimpfte er pausenlos:
„Du Idiot, das hast du absichtlich gemacht. Jetzt werde ich dich auch dort hineinwerfen!“
Dietrich wurde diesem wütenden Bruder kaum Herr. Mit ausgestrecktem Arm hielt er Max an seinem gesenkten Kopf notdürftig auf Entfernung. Dennoch musste er ständig kleine Sprünge machen, um seinen Attacken auszuweichen. Dabei musste er verflixt darauf achten, dass sich der Wille des Bruders nicht doch noch erfüllte und er in die Brennnesseln geriet. Bald hatte er die Schnauze voll von diesem Spiel:
„Hör jetzt auf! Du bist selbst dran schuld! Ich wusste nicht, dass du hinter mir standst. Ich hatte dir doch gesagt, du sollst dahinten bleiben und auf mich warten.“
Aber noch wollte Max keinen Frieden schließen. Erneut trat er nach Dietrich und wiederholte seine Schimpftiraden.
„Jetzt hörst du aber auf, sonst werde ich heimgehen. Dann ist es aus mit dem Nachschauen!“
„Du hast es trotzdem absichtlich gemacht!“,
warf er ihm, nochmals tief schniefend, vor.
Dann stupste er Dietrich ein letztes Mal und wendete sich schmollend ab:
„Ich will nicht heim! Ich will weiter gehen!“
Einen Augenblick lang ließ Dietrich ihn zur Ruhe kommen. Dabei schaute er sich um.
„Ich glaube, dazu müssen wir auf der anderen Seite des Brennnesselfeldes den Berg hoch gehen.“
Sie machten sich gleich auf dem Weg, standen aber bald vor einem neuen Problem. Die Bergflanke war sehr steil und zu stark bewachsen. Es würde nicht leicht sein, dort hinaufzukommen. Die Brennnesseln reichten noch ein stückweit den Hang hinauf. Das bedeutete, sie mussten bis oben hinaufsteigen und konnten nicht am unteren Rand der Bergflanke entlang gehen. Gedankenverloren schüttelte Dietrich den Kopf. Hier ging es nicht. Er schaute sich um. Ein Stück weiter aufwärts gab es zwei abgestuft, ineinander übergehende kleinere Hügel, die auch in den irdenen Wall mündeten. Über diese Treppe schien es bequem zum Grat hoch gehen zu können.
Max sah die entsprechende Stelle auch. Aber er hatte momentan alle Lust am Abenteuer verloren. Unentwegt kratzte er sich seine offensichtlich juckenden Arme und Beine.
„Komm, Max, wir schauen, dass wir dort hochkommen. Wenn wir etwas tun, vergisst du auch ganz schnell dieses furchtbare Jucken.“
Das erschien ihm Verheißung genug zu sein. Mit altem Elan schritt er auf den Bergzug zu. Schon beim Annähern machten sie den idealen Einstieg aus. Sie stiegen bis zu jener Stelle, an der die den Grat säumenden Büsche eine Lücke bot. Diese ließ die Geschwister in das Innere der Bergwelt vordringen. Dort fiel das Gelände gleich wieder ab und bildete zwischen den zwei Hügelketten eine lange, nur durch wenige leichte Erhöhungen unterbrochene Rinne, die bis zum unteren Siedlungsrand reichte. In ihr standen im überschaubaren Abschnitt nur wenige Pflanzen und es schien, als könne man hier rasch vorankommen. Dietrich erreichte den Grund der Senke als erster. Er hatte vom abwärtsgehen sehr viel Schwung aufgenommen. Der großen langen Pfütze, die sich ein ganzes Stück nach unten entlang zogen, schenkte er keine Beachtung. Das war ein Fehler. Mit seinem nächsten Schritt riss es ihm, auf dem schlammigen Untergrund, unversehens die Füße weg. Bevor er überhaupt wusste, was geschah saß er auf seinem Hosenboden. Verdutzt schaute er sich um. Max war auf halber Höhe stehen geblieben und stimmte ein schadenfrohes Gelächter an. Dietrich war nicht so sehr über sein Missgeschick wütend, als viel mehr darüber, dass Max es mitbekommen hatte und ihn nun mit seinem Hohn überzog.
„Hör auf zu lachen du Depp, sonst setzt es eine Abreibung! Komm endlich runter oder willst du dort oben überwintern.“
Max ließ sich nicht beirren:
„Das war echt klasse, wie du eben deine Beine hochgeworfen hast. Und wie du dich hingesetzt hast, echt ulkig. Wie bei Dick und Doof. Kannst du das noch einmal machen?“
„Ach halt doch deine Klappe!“
Dietrich drehte sich etwas zur Seite um besser aufstehen zu können. Doch überall wo er hin griff war Knatsch. Nur mühsam kam er wieder auf die Beine.
„Was ist? Warum stehst du da noch rum?“
Nun setzte sich Max wieder in Bewegung. Er hatte Dietrich fast erreicht, als ihn das gleiche Missgeschick ereilte. Dietrich zahlte ihm das höhnische Gelächter von vorhin sofort zurück.
„Wenn es bei mir wie bei Dick und Doof aussah, musst du ja wohl der doofe sein!“
Max griff in den Schlamm und warf eine Handvoll nach seinem Bruder. Der wich der auf ihn zustrebenden Masse sofort aus. Aber er stand noch immer auf glitschigen Boden. So kam es, dass er unversehens seinem Bruder gegenüber saß. Nun mussten beide lachen. Dietrich schaute sich um, als er sich beruhigt hatte:
„Verdammt, hier kommen wir nicht weiter. Wir müssen wieder etwas nach oben gehen.“
Max war mit Dietrichs Vorschlag sofort einverstanden. Vorsichtig standen sie auf. Wie auf Eiern tasteten sie sich wieder auf festen Boden vor. Auf halber Höhe gaben die Pflanzen einen recht guten Weg in die gewünschte Richtung frei. Den wollten sie gehen. Aber zunächst säuberten sie sich mit abgepflückten Blättern vom überall anhaftenden Dreck. Dietrich hatte sich gemerkt, dass das ausgebrannte Auto in etwa neben dem nächsten Häuserblock lag. Damit hatte er einen hervorragenden Orientierungspunkt. Kurz bevor sie den angestrebten Häuserblock erreichten, fand er eine günstige Stelle um wieder auf den Kamm hinauf steigen zu können. Am Grat war ein kleiner Einschnitt zu sehen. Auf diesen Punkt strebte er zu. Max folgte ihn schweigend.
Als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, erhielten sie einen guten Überblick. Das mächtige, im tiefendunklen Grün liegende Brennnesselfeld hatten sie hinter sich gelassen. Unter sich sahen sie einen recht großen, wenig bewachsenen Platz, von dem ein langer breiter Pfad in Richtung des unteren Siedlungsrandes abging. In dieser Schneise waren deutlich die mit Wasser gefüllten Reifenspuren schwerer Lastwagen zu erkennen. Mitten auf diesen Platz stand die Isetta. Umsäumt von einem schwarzen Ring verbrannten Grases. Jetzt nahm Dietrich ganz schwach einen Brandgeruch wahr. Ängstlich schaute er sich um. Doch weit und breit war niemand zu sehen, der sie stören oder gar verjagen könnte. Einer Untersuchung dieses interessanten Objektes stand also nichts im Wege.
„Komm, wir gehen runter! Dort vorne ist ein leichter Abstieg!“
Max stand noch immer mit beeindruckter Miene da und schaute auf dem verbrannten Flecken Erde. Wieder schien er mit seiner Angst kämpfen zu müssen. Dann schaute er seinen Bruder stumm an, mit einem Blick, als wolle er sagen: Lass uns hier oben bleiben.
„Komm schon! Du willst es dir doch auch anschauen!“,
Dietrichs kleine Ansprache schien zu wirken. Langsam setzte Max sich in Bewegung und folgte seinem Bruder runter in das Tal. Dort schaute dieser sich zunächst die Reifenspuren an.
„Ich denke, die sind von den Feuerwehrautos. Ich war gestern mit Olaf auf unseren Rollern unterwegs. Dabei sind wir auch dort auf dem Spielplatz gewesen. Ich bin sicher, das Auto war da noch nicht hier. Dies muss also heute Nacht geschehen sein. Nach dem Gewitter, sonst wären die Reifenspuren nicht so tief.“
Dann ging er auf das Auto zu. Der Brandgeruch wurde nun viel intensiver.
„Pfui wie das stinkt!“,
meldete sich sein kleiner Bruder nach einer langen schweigsamen Phase wieder zu Wort. Er ging nur sehr zögerlich auf das Wrack zu.
„Das riecht ganz anders, als wenn man Kohle oder Holz verbrennt. Es riecht so ekelhaft.“
Auch Dietrich hatte schon diesen, alles überlagernden, dumpfen Geruch wahrgenommen:
„Es riecht, wie, wenn man einen Gummiring verbrannt hat.“,
bestätigte er.
„Der Geruch kommt sicher von den Reifen. Du siehst, die sind völlig weggebrannt.“
Bald erreichten sie das Vehikel. In respektvoller Entfernung umkreisten sie es. Besonders der hintere Teil war vollkommend schwarz. Dort war keine Farbe mehr zu erkennen. Nur vorne die Tür gab ihnen Auskunft darüber, dass dieser Wagen einmal blauweiß gewesen war.
„Wahrscheinlich hatte die Tür offen gestanden, als das Feuer brannte! So ist sie nicht mit verbrannt“,
mutmaßte Dietrich sofort.
Überall um das Fahrzeug lagen kleine Glassplitter von den zersprungenen Autoscheiben. Das passte Dietrich überhaupt nicht. Denn bei seinen offenen Schuhen konnte er sich schnell so ein Glasteil in die Sandalen schaufeln und sich daran schneiden. Vorsichtig ging er auf die vordere Seite des Autos zu und griff an das verrußte Metall des Wagens. Es war kalt. Schnell wischte er seine Hand an der Hose ab. Eifrig nickte er:
„Das Feuer muss schon vor einer ganzen Weile gelöscht worden sein.“
Sein Bruder näherte sich ebenfalls der Isetta und sah durch die glaslosen Fensteröffnungen in das Innere des Wracks.
„Da drinnen ist auch alles schwarz. Von dem Sitzen ist nur noch der Rahmen mit ein paar Sprungfedern zu sehen. Das sieht richtig komisch aus! Und dann liegt da noch eine große halbverbrannte Abdeckung drinnen. Die ist wohl vom Dach runtergefallen. Das muss ein ganz schön großes Feuer gewesen sein!“
Dietrich nickt stumm und wollte nun in das Auto hineinsteigen. Die Tür des Wagens war geschlossen. Vorsichtig griff er nach dem Türgriff und versuchte den Verschlag zu öffnen. Dazu musste man diesen nach unter drehen. Der Griff bewegte sich aber nicht. Der große Bruder zog nun einfach an der Tür. Sie blieb verschlossen. Enttäuscht drehte er sich ab und schaute seinen kleineren Bruder ratlos an.
„Vielleicht kannst du die Tür ja von innen öffnen. Freddy hat mir so was mal gezeigt. Da drinnen muss auch ein Heben sein.“,
schlug Max vor.
Der Ältere schaute den naseweisen Gesellen sauer an und ärgerte sich, dass er nicht selber auf diese Idee gekommen war. Natürlich hatte er schon einige der überall am Siedlungsrand herumstehenden Autowracks untersucht. So wusste er natürlich auch über diese Hebel Bescheid. Aber so einfach wollte er seinem kleinen Bruder den Triumpf nicht überlassen:
„Ach was! Wenn es von außen nicht schließt, dann geht es von drinnen bestimmt auch nicht auf.“,
wehrte er trotzig ab.
„Und wenn doch! Wenn du es nicht probierst, wirst du es bestimmt auch nicht erfahren.“,
frohlockte sein Bruder. Denn er war sich bewusst, dass Dietrich es probieren musste. Wenn es klappte, hatte er einen kleinen Sieg über seinen großen Bruder errungen.
Dietrich wusste es natürlich auch. Er atmete tief durch und ging zum Auto zurück. Vorsichtig griff er durch das scheibenlose Fenster. Nur wenige, ebenfalls in kleine Brocken zersprungene Scherben steckten noch im Rahmen. Er suchte an der Innenseite der Tür nach dem Griff. Auf der linken Seite ertastete er ihn. Sogleich versuchte er ihn zu ziehen. Doch dieser rührte sich nicht. Er war enttäuscht und zugleich froh. Er brauchte seinem Bruder den Triumph nicht gönnen:
„Er lässt sich nicht ziehen.“, rief er seinem gespannt zuschauenden Bruder zu. Aber so leicht gab Max nicht auf:
„Außen musstest du doch drehen. Versuche es da drinnen doch auch einmal so!“
Ärgerlich griff Dietrich erneut in den Wagen. Wieder hatte sein Bruder einen Vorschlag gemacht, auf dem er auch selber hätte kommen können. Das schlimmste war, er funktionierte auch noch. Die Tür öffnete sich mit einem kleinen Ruck. Mürrisch wies er den kleinen Besserwisser zurecht:
„Ich gehe als erster rein um zu gucken. Du wartest so solange hier draußen.“
„Warum?“
„Weil ich es sage!“
Dann öffnete er vorsichtig die Tür. Dazu musste er etwas zurückweichen. Wieselflink drängte der kleine Bruder an ihm vorbei. Dietrich ließ die Tür einfach los. Sie schlug sofort wieder zu. Max musste zur Seite springen, um von ihr nicht zu Boden gestoßen zu werden.
„He! Passt doch auf!“,
schrie er seinen Bruder an.
„Ich habe dir gerade gesagt, dass ich zuerst da rein gehe! Also gehe hinter mich und warte dort!“
Widerwillig gehorchte der Aufmüpfige und trottete hinter seinen Bruder. Erneut entriegelte dieser die Tür und schwang sie ein wenig auf. Dann schaute er nach seinem Bruder. Dieser sah aufmerksam zu.
„Du bleibst wo du bist!“,
wies er ihn nochmals an. Dann trat er wieder einen Schritt zurück und schwenkte die Tür soweit auf, dass sie durch den vorhandenen Mechanismus festgestellt war und offenblieb. Der heruntergefallene Autohimmel lag schräg über den verbrannten Sitzen. Dietrich schob ihn etwas nach hinten, sodass er ein wenig mehr Platz im Wageninneren hatte. Der Innenraum war übersät von kleinen Glassplittern. Er musste vorsichtig sein. Allerdings interessierte sich Dietrich zunächst nur für das Lenkrad. So eins wollte er schon lange haben.
Sein Kamerad Olaf besaß bereits ein solches hochbegehrte Objekt. Wenn sie dann im Sandkasten ihre Autos bauten, beneideten ihn die anderen Kinder sehr um sein echtes Zubehör, natürlich auch er. Nun war direkt vor ihm, ein besonders schönes Teil dieser Art. Denn so klein dieser Wagen auch war, die wenigen Bedienungselemente waren alle mit schönen Ornamenten verziert. Das Lenkrad war zusammen mit der Lenkstange beim Öffnen der Tür etwas nach außen geschwungen. Er setzte sich vorsichtig auf die Türschwelle und begann das begehrte Objekt zu untersuchen. Leider fand er keine Möglichkeit, es von der Lenkstange zu lösen. Dazu wusste er einfach noch nichts, von all den raffinierten Techniken, mit denen man solche Bauteile fest und sicher miteinander verbinden konnte. Nach minutenlangem vergeblichem Bemühen gab er schließlich enttäuscht auf.
„Vielleicht kann ich ja Freddy fragen, wie man das abkriegt. Hoffentlich will er es dann nicht selber haben.“,
wandte er sich an seinen kleinen Bruder. Nun erst bekam er mit, dass sich Max bereits im Wagen zu schaffen machte. Er hatte die halb verbrannte Abdeckung zur anderen Seite gekippt und war gerade dabei den Knopf von der Gangschaltung abzuschrauben. Es war ein hübscher kleiner heller Ball, offensichtlich aus Porzellan. Er hatte Erfolg. Richtig sauer fuhr er Max an:
„Du solltest doch draußen bleiben. Das Ding wollte ich haben. Es gehört mir. Gib es her!“
Max steckte seine Beute schnell in seine Tasche:
„Nein, du wolltest das Lenkrad haben. Das hier habe ich mir abgemacht und das behalte ich auch!“,
protestierten er vehement. Dietrich machte einen Schritt auf ihn zu. Er wollte seinem Bruder dieses ebenfalls sehr begehrte Objekt auf keinen Fall überlassen.
Plötzlich vernahmen die beiden Geschwister Geschrei in ihrer Nähe. Irgendwo im Gebirge wurde ein wütender Streit ausgetragen. Einen Augenblick erstarrten sie in ihrem Tun und blickten in die Richtung des Lärms. Was hatte dies zu bedeuten? Max zerrte an seinem Bruder und wäre am liebsten abgehauen. Dietrich wiegelte ab. Er war viel zu neugierig, um dieser Sache nicht auf den Grund zu gehen. Vielleicht konnte man ja aus einem sicheren Versteck beobachten, was da vor sich ging. Dietrich schmiss die Autotür zu und schaute zum Gebirge hinauf. Verstehen konnten sie nichts, von dem Gezeter. Aber sie hörten deutlich, wie sich die Stimmen von Jugendlichen und die Stimmen von Erwachsenen lautstark stritten.
„Was ist denn da los? Komm, wir schauen mal nach.“
Erik und Ole
Sie stiegen den gleichen Pfad hinauf, der sie auch hinuntergeführt hatte. Oben auf dem Grat verdeckten ihnen die hochgewachsenen Pflanzen zunächst die Sicht auf das Innere des Gebirges. Nach ein paar Schritten kamen sie zu der Lücke, die ihnen vorher schon den Durchlass gewährt hatte. Von nun an hatten sie freie Sicht, aber niemand war zu sehen. Auch der Streit hatte mittlerweile aufgehört. Es war wieder so still, als sei nie etwas gewesen. Neugierig steigen sie in die Rinne hinab und wollten auf der anderen Seite wieder aufsteigen. Aber alles war voller Match. Ein kleiner Pfad führte sie nach links dem Berghang leicht hinauf. Nach wenigen Metern erkannten sie eine Stelle, an der sie mit einem Sprung auf die andere Seite der Rinne wechseln konnten. Daran anschließend fanden sie einen Pfad, der sie leicht aufwärts führte. Allerding war er auf der Hangseite mit Brennnesseln gesäumt. Bald verbreitete sich dieser Pfad zu einer weiten Fläche, die nach rechts sanft anstieg. Die Brennnesseln wichen nach oben zurück. Auch auf ihrer linken Seite befanden sich hochgewachsene Pflanzen. Weiter vorne schien sich der Pfad zu einen freien, für sie nicht einsehbaren, Platz zu erweitern.
Mit wenigen Schritten hatten sie diesen Übergang erreicht. Schon mit dem ersten Blick auf den Platz blieben sie erschrocken stehen. Unvermittelt sahen sie zwei Gestalten auf einen großen Stein sitzen. Sie erkannten sie sofort. Es waren Erik und Ole Steinbrecher. Diese sahen die beiden ankommenden Jungs im gleichen Augenblick. An ein Wegrennen war nicht mehr zu denken. Der fast schon erwachsene braunhaarige Ole richtete sich sofort auf und ging auf sie zu. Er setzte dabei ein spöttisches Gesicht auf:
„Wen haben wir denn da? Zwei von den Müller-Jungs. Was macht ihr denn hier?“
Dietrich wusste nicht, was er sagen sollte, so erschrocken war er. Auch Max sprach kein Wort. Er starrte nur auf den etwas dicklich wirkenden Ole, der sich nun breitbeinig, in einer herrischen Pose vor sie aufgebaut hatte. Er hatte eine knapp über den Knien abgeschnittene und ausfranzende hellblaue Jeans an. Darüber hing ein offenes kurzärmliges weises Hemd. Als er keine Antwort bekam, stupste er Dietrich, sodass er nach hinten taumelte.
„Du redest wohl nicht mit mir?“
„He! lass mich in Ruhe!“,
herrschte der ältere Müllerjunge ihn an. Ole drehte sich zu seinem Bruder um und spottete:
„Schau dir den doch an! Der muckt ja auf.“
Nun stand auch Erik auf. Er war der jüngere der beiden Brüder. Aber der dunkelblonde, unfrisierte Junge mit dem kantigen Gesicht, war schon deutlich älter als die beiden Müllers. Schon weit über zehn Jahre alt. Er war mit einer schmutzigen kurzen blauen Stoffhose bekleidet und hatte ein halb zugeknöpftes, dunkelblaues, Hemd mit kurzen Ärmeln an. Dietrich konnte sehen, dass er in seiner Hand einen der von allen Jungs so begehrten Pickel hielt. Er ging auf Max zu, der etwa einen Meter von seinem Bruder entfernt stand:
„Könnt ihr den nicht reden?“,
fragte er ihn nun voller Zorn.
Max rührte sich nicht. So etwas hatten die beiden Kinder noch nicht erlebt. Hier in der Siedlung lebten sie alle miteinander. Sie hatten auch von den älteren Jungs nie etwas zu befürchten gehabt. Die Steinbrechers jedoch hatten einen sehr schlechten Ruf. Aber an kleine Kinder hatte auch sie sich noch nie vergriffen. Die Situation wurde jedoch immer bedrohlicher. Erik nahm nun den Pickel so in seine Hand, dass die eine Spitze auf den Bauch des kleinen Bruders zeigte. Mit einer leichten Schwingung, die die Bauklammer den Körper vom Max berühren lies, forderte er sie erneut zum Reden auf. Max zuckte bei der leichten Berührung heftig zusammen. Er hatte große Angst und stand kurz davor, los zu heulen.
„Wir wollten hier doch nur spielen.“,
brachte Dietrich stockend raus. Sein Mund fühlte sich trocken an. Er starrte nur auf die Waffe, die Erik in seiner Hand hielt.
„Ihr wolltet hier spielen? Das werden wir euch aber gründlich austreiben!“
Erneut schwang er den Pickel auf dem Bauch des kleinen Bruders und traf ihn wiederum leicht. Ein angstvolles Zittern durchlief den ganzen Körper von Max.
„Lasst uns doch in Ruhe! Wir verschwinden auch von hier!“,
flehte Dietrich die beiden Bösewichter an.
„Natürlich werdet ihr verschwinden, wenn ich mit euch fertig bin!“,
höhnte Erik weiter.
Nun mischte sich Ole wieder ein:
„Lass sie in Ruhe, du siehst doch, die machen sich schon in die Hose.“
Erik schien seinen Bruder nicht zu hören und schubste Max so heftig, dass er sich auf seinen Hosenboden setzte. Erik setzte sofort nach und begann erneut, dem am Boden liegenden Bruder mit der Bauklammer zu bedrohen.
Nun begann Max mit dem heulen. Seltsamerweise ärgerte sich Dietrich darüber. Jetzt heult er heute schon zum dritten Mal. Zum ersten Mal bei der Treppe und dann bei den Brennnesseln.
Brennnesseln! Sofort setzte sich ein Gedanken in seinen Kopf fest. Kein Plan, dazu war keine Zeit. Nur ein Gedanke. Und dieser Gedanke lud sich mit so viel wütender Energie auf, dass diese sich spontan nach draußen entladen wollte. Der ganze Körper von Dietrich spannte sich wie eine Feder. Noch bevor er überhaupt irgendetwas denken konnte, hatte er Erik einen solchen Stoß versetzt, dass dieser drei, vier Schritte nach hinten taumelte und sich dann lang auf den Boden hinlegte. Für ihn bedauerlich, befand er sich zu diesem Zeitpunkt schon mitten in dem Brennnesselfeld das den Brüdern vorher den Weg gewiesen hatte. Verwundert starrte Ole auf seinen flachliegenden Bruder. Er konnte sich vor Überraschung gar nicht rühren.
Bei Max war dies anders. Er begriff sofort die Gunst der Stunde, sprang auf und rannte seinem Bruder nach. Auch er war natürlich nicht stehen geblieben. Hinter sich hörten sie Erik seinen Bruder anbrüllen:
„Was stehst du denn da herum, du Idiot. Hilf mir hier raus!“
Doch Ole hatte anscheinend keine Lust seinen Bruder zu helfen:
„Du spinnst wohl, ich gehe doch nicht in die Brennnesseln rein! Sieh zu, wie du daraus kommst! Du bist doch selber schuld!“
„Du Depp! Warte, wenn ich die beiden kriege! Wo sind sie denn hin?“
„Da runter!“
Es war der einzige Weg, den Dietrich und Max hatten nehmen können. Sie stiegen dabei nach oben zum Kamm hinauf, wurden aber durch weitere Brennnesselfelder daran gehindert die Rinne zu verlassen. In die andere, für sie wesentlich bessere Richtung, konnten sie nicht laufen. Dort waren die Steinbrechers. Dennoch, da wo sie jetzt entlangliefen, konnten sie den beiden Jungs auch nicht entkommen. Denn bald würden diese hinter ihnen herankommen. Sie würden die Müllers mit ihren großen Beinen schnell eingeholt haben. Und dann konnte sie sich ausrechnen, was mit ihnen geschah. Panik kam in ihnen auf. Sie mussten hier weg! Ganz schnell! Raus aus der Rinne! Aber dichtstehende Brennnesseln gaben keinen Weg frei.
Plötzlich sah Dietrich rechts neben sich eine ganz schmale Lücke, in der grünen Wand jener verhassten Pflanzen. Er packte die Hand seines Bruders und zog ihn zu sich:
„Es nützt nichts, wir müssen da durch! Der Pfad ist breit genug, sodass wir nicht allzu viel abbekommen werden!“
Max zögerte keine Sekunde. Gemeinsam drangen sie diese drei Meter durch die grüne Mauer hindurch. Nur um unvermittelt vor den steil abfallenden Hang zu stehen. Sie überlegte nicht lange:
„Wir rutschen hier runter, schnell!“
Gemeinsam setzten sie sich auf ihre Hosenböden und wagten die Abfahrt, die glücklicherweise nicht noch einmal durch Brennnesseln führte. Unten angekommen hatten sie noch immer keine Ruhe. Denn sie standen vollkommen ohne Deckung da. Sie mussten sich dringend ein Versteck suchen. Dietrich blickte verzweifelt um sich. Aber er fand keine Möglichkeit Unterschlupf zu finden. Doch! Es gab eine! Dietrich zog Max erneut bei der Hand.
„Wir laufen zum Neubau rüber, schnell!“
Auch jetzt folgte Max ohne Widerwort. Oben auf dem Berg hörten sie ihre unsichtbaren Feinde schimpfen:
„Verdammt, wo sind sie denn hin?“,
Erik hörte sich sehr wütend an.
„Die sind runter gelaufen!“,
entgegnete Ole mit einer fast gleichgültigen Stimme.
„Die können nicht vor uns sein! Wir würden sie doch sehen!“
„Aber die können auch nicht hier runter sein! Es ist doch alles voll mit diesem verflixten Zeug!“
Erik ließ sich nicht beirren:
„Vollkommen egal, ob sie es können oder nicht, die müssen da unten sein!“
„Komm, dort vorne ist unser Einstieg, an dieser Stelle können wir etwas mehr sehen. Und dort können wir auch wieder runter gehen.“
Dietrich und Max hörten wie die beiden Steinbrechers weiterliefen und befürchteten, dass sie bald bei ihnen sein würden. Es wurde eng für sie! Eile tat Not! Das erste und auch einzige Haus, das sie rechtzeitig erreichten konnten, war durch eine, mit einem Vorhängeschloss gesicherten, Tür versperrt. Diese Tür bestand aus einen, auf einem Holzrahmen befestigtes Drahtgeflecht, wie man es beim Deckengießen im Beton verarbeitete. Dietrich resignierte:
„Da kommen wir nicht hinein!“
Dann schaute er sich um. Weiter hinten, zur Straße hin, war noch ein Treppenabgang zum Keller dieses Hauses. Dort hätte man sich sicher verstecken können. Aber auch dieser Abgang war zu weit weg. Zudem hörten sie von dort aus dem Keller gedämpfte Stimmen zu sich rüber dringen. Am anderen Ende des Häuserblocks, waren in einer riesigen, mannshohen Reihe, Zementsäcke aufgestapelt. Doch das war viel zu weit weg. Auf den freien Platz zwischen den Häuserblocks standen verschiedene Baumaschinen herum. Doch Dietrich vermutete wohl zurecht, dass an denen immer wieder Arbeiter erscheinen würden, um ihrer Arbeit nachzugehen. Diese würden sie sofort verjagen. Dietrich verzweifelte:
„Und wo anders kommen wir auch nicht mehr hin. Jetzt haben sie uns.“
Wütend trat Dietrich nun gegen das Gitter der Tür, welches ihnen eine Zuflucht verwehrte. Doch da geschah etwas Seltsames. Die untere Ecke des Verschlages sprang etwas aus dem Rahmen. Dietrich bemerkte sofort, dass das Holz am unteren rechten Eck zerbrochen war. Man konnte es samt dem Gitter anheben, sodass eine Lücke entstand, durch die man hindurch schlüpfen konnte. Er griff sofort zu und bog mühsam den Rahmen etwas nach oben:
„Max, schnell hinein!“
Der kleine Bruder war fix. Schnell beeilte er sich, durch die freigehaltene Lücke zu schlüpfen. Von neben dem Haus hörte man die Brüder Erik und Ole herankommen. Schnell schlüpfte auch Dietrich durch die Öffnung, die er sich selbst freihalten musste. Drinnen angekommen sprang er sofort in die kleine Nische neben der Tür, in die einmal die Briefkästen angebracht werden sollten. Hier war er von außen nicht zu entdecken. Max stand bereits in der Nische auf der anderen Seite und drückte sich fest an die Wand. Er schien kaum zu atmen. Auch Dietrich blieb etwas die Luft weg. Denn kaum hatte sich der Holzrahmen wieder geschlossen, da hörten sie Erik schon fluchen:
„Verdammt, hier sind sie auch nicht! Sind sie da im Abgang?“
Eric wollte anscheinend schon hinlaufen. Ole hielt ihn zurück:
„Hörst Du nicht? Da sind die Arbeiter!“
Nur wenige Augenblicke später bemerkte Dietrich, dass die beiden Raufbolde direkt vor dem Drahtverschlag zu stehen schienen. Ihm war klar, es gab im Moment für die beiden Verborgenen keine Gelegenheit mehr, tiefer in das Haus zu fliehen.
„Ich habe dir doch gesagt, die sind nach unten gerannt!“, konnte man Ole monieren hören.
„Quatsch, die müssen hier irgendwo sein. Diese verdammten Biester. Wenn ich die erwische…!“
Hände ergriffen das sperrende Gitter und rüttelten wütend daran. Dann traf offensichtlich ein Fuß den Schutz, der die Müllers von den wütenden Gesellen trennte. Es gab einen Höllenlärm.
„Du Idiot! willst Du die Handwerker alarmieren?“
„Ach lass mich! Wir müssen die Knirpse suchen! Die können nicht weit sein!“
„Jetzt hältst du aber mal Ruhe! Wenn du dich nicht so aufgespielt hättest, wärest du nicht in den Brennnesseln gelandet. Ich sage dir, die haben sich da oben irgendwo versteckt und sind nun längst nach Hause gerannt. Die hatten doch die Hosen voll! Wir wollen uns jetzt lieber um unseren Kram kümmern.“
Dietrich wollte schon aufatmen, als Erik, der offensichtlich etwas ruhiger geworden war, seinem Bruder zustimmte:
„Ja du hast Recht. Lass uns ins Haus reingehen und das Zeug holen. Im Moment sind die Handwerker nicht zu sehen.“
Eiskalt lief es Dietrich nun den Rücken hinunter. Max gab einen leisen quiekenden Laut von sich. Er hatte furchtbare Angst. Sie saßen hier in der Falle und hörte schon, wie das metallene Gitter hochgebogen wurde. Jeden Augenblick musste einer der beiden Peiniger seinen Kopf durch die entstandene Öffnung schieben. Panik kam auf. Dietrich wusste nicht, was er tun sollte. Stehen bleiben? Oder doch die winzige Chance nutzen und tiefer in das Haus hineinrennen. Sie würden sie natürlich sofort sehen. Aber vielleicht konnte man sich im weitläufigen Haus ja doch irgendwie verstecken. Er sah zu Max hinüber. Dieser hatte beide Augen fest geschlossen. Wahrscheinlich nach dem Grundsatz, wenn ich sie nicht sehe, können die mich auch nicht sehen. So konnte der große Bruder ihm keine stillen Zeichen geben. Anrufen konnte er ihn auch nicht. Das hätten Erik und Ole sofort gehört. Bliebe eigentlich nur, alleine wegzurennen. Aber das ging auf keinen Fall. Er konnte Max nicht alleine lassen. So hielt er den Atem an, als er Erik hörte, wie dieser seinen Bruder aufforderte, das Gitter festzuhalten. Ole tat ihm scheinbar diesen Gefallen. Erik ging sofort auf seine Knie und wollte sich gerade in das Haus hineinbegeben. Da kam Oles Warnung:
„Mensch Erik, da kommen die beiden Bauarbeiter aus dem Keller hoch. Mach dich weg!“
Ole wartete gar nicht ab, bis Erik aus der Gefahrenzone war. Er ließ das einfach Gitter los und machte sich aus dem Staub. Erik bekam das Holz des Rahmens direkt auf seinen Kopf. Erschrocken schrie er auf und schnellte zurück. Dann sah er die kräftigen Bauhandwerker auf sich zukommen. Rasch kam er auf seine Beine und schickte den davongeeilten Ole ein:
„Du Idiot“
hinterher, bevor er selber losrannte. Die Handwerker eilten Ihnen noch ein kleines Stück hinterher:
„Da seid ihr beiden Lümmel ja schon wieder! Macht dass ihr wegkommt! Das nächste Mal setzt es eine Tracht Prügel!“,
riefen sie den davoneilenden nach. Die beiden Müllerjungen entspannten sich ein wenig. Die größte Gefahr schien vorbei zu sein. Aber dann bemerkte sie, wie an der Tür wieder jemand herum machte:
„Sieh dir das an! Die Beiden haben das glatt aufgebrochen. Wir müssen das reparieren.“,
ertönte es direkt vor der Tür.
„Ja, aber wir müssen erst unsere Arbeit fertig machen. Das können wir später noch erledigen. Komm beeilen wir uns!“
Dietrich und Max wartete noch einen Augenblick und lauschten in die entstandene Stille hinein. Es rührte sich nichts mehr. Von etwas weiter weg kamen Geräusche, die darauf hindeuteten, dass die Arbeiter ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten. Sie pendelten dabei offenbar ständig zwischen Keller und Außenbereich des Hauses hin und her und benutzten dazu den zu jedem Haus dieser Siedlung gehörenden Abgang zum Souterrain. Jetzt waren sie offensichtlich vor dem Haus geblieben.
„Wir können noch nicht raus. Die Luft ist noch nicht rein!“,
flüsterte Dietrich seinem kleinen Bruder zu. Der entließ mit einem Schlag den gesamten Inhalt seiner Lungen:
„Ich wäre eben fast gestorben! Wenn die Steinbrechers reingekommen wären…!“
„Ich befürchte, sie sind nicht weit weg. Die kommen wieder. Du hast doch gehört, sie wollten hier drinnen etwas erledigen. Ich wünschte wir könnten hier raus. Aber im Moment geht es nicht. Die Arbeiter sind vor dem Haus. Wir müssen schauen, ob wir irgendwo anders raus können.“
„Wo willst du denn hier anderswo rauskommen?“
„Über den Keller geht es nicht, denn da sind die Handwerker. Aber vielleicht können wir auf der anderen Seite durch ein Fenster entkommen. Wir müssen einfach nachschauen!“
Die Erkundung
Zögernd verließen sie ihre Ecken und schauten vorsichtig durch das Gitter, Die Luft war rein! Dann flitzten sie schnell die sieben Betonstufen hinauf, die sie zu den Erdgeschosswohnungen brachten. Nun standen sie auf einen Treppenabsatz, von dem aus, eine weitere geländerlose Treppe in das nächste Geschoß führte. Rechts, links und ihnen gegenüber waren jeweils Öffnungen in den unverputzten Ziegelsteinmauern. Diese würden einmal Wohnungstüren zu den dahinterliegenden Wohneinheiten werden.
„Wir gehen nach rechts. Das ist in der Regel die größte Wohnung. Sie wird auch einen Balkon haben.“
Die Wohnungen in der Siedlung waren stets nach einem gleichen Muster aufgebaut. Daher war Dietrichs Endscheidung, nach rechte zu gehen, verständlich. Auch sie wohnten in einer rechts liegenden Wohnung. Zögernd traten sie durch die nicht vorhandene Wohnungstür. Ihre Schritte hallten auf dem bloßen Betonboden. Sie schauten sich um. Gleich rechts neben dem Eingang, etwas eingerückt, lag eine schlauchartige Toilette mit ihrem kleinen Vorraum. Daneben lag, ebenfalls etwas zurückgesetzt, das große Bad. Anschließend ging nach rechts ein recht schmaler, langer Raum ab. So sah eine Küche aus, in der keine Möbel standen. Dietrich eilte in den Raum hinein, Richtung Fensterloch, drückte sich an die Wand und schaute vorsichtig hinaus. Etwas weiter links waren die Bauarbeiter am Werken. Von den Steinbrecher konnte er nicht entdecken. Vorsichtig schlich er zu Max zurück, der an der Tür stehen geblieben war. Ihm schien es hier im Neubau genauso wenig wohl zu sein, wie seinem Bruder.
„Komm, wir gehen weiter. Nach vorne ins Wohnzimmer. Dort schauen wir, ob wir über den Balkon nach draußen kommen können.“
Natürlich waren in dieser Wohnung nur kahle, leere Räume, ohne eine zugewiesene Funktion. Der Einfachheit halber benannt Dietrich die Räume, wie sie in ihrer Wohnung eingerichtet waren. Zum Wohnzimmer mussten sie geradeaus gehen. Max bog aber ab und ging in den Raum, gegenüber der Küche. Es war ein recht großer Raum. In ihrer Wohnung war dies ihr Kinderzimmer. Auch dieser Raum war so seltsam leer, wie alle anderen bisher gesehenen Räume. Nur eine alte Decke lag in der Ecke neben dem Fenster. Dietrich rief ungeduldig nach Max. Etwas unwillig folgte er ihm zum Wohnzimmer. Dabei passierten sie zwei weitere Räume, die sich rechts und links gegenüberlagen. Sie interessierten sich nicht für sie. Das Wohnzimmer war der größte Raum der Wohnung. In der Mitte der rechten Zimmerwand ging nochmals eine Tür ab. Dort war in der Regel das Schlafzimmer der Eltern. Dieser Wand gegenüber lag eine große Fensterwand mit der Balkontür. Der Balkon war schon da. Dort musste es doch möglich sein, hinaus zu kommen. Vorsichtig gingen sie zur Öffnung für die Balkontür.
„Ich werde erst einmal die Lage peilen. Du bleibst hier!“,
befahl er seinen Bruder. Dieser nickte nur schweigend und drückte sich in die Ecke neben dem Durchgang. Dietrich lehnte sich aus seiner Deckung vorsichtig hinaus. In seinem Blickfeld war kein Mensch zu sehen. Aber er konnte nicht nach links in Richtung des Gebirges sehen. Dazu musste er seine Deckung verlassen. Er traute sich nicht, denn er befürchtete, dass die beiden gewalttätigen Brüder noch in der Nähe waren und das Haus beobachteten.
Verzweifelt schaute er sich um. Da bemerkte er, dass die Wände des Balkons, dort wo sie in der Ecke zusammenstoßen sollten, sich nicht berührten. Es waren schmale Spalten offengeblieben. Das war seine Chance. Aber um dahin zu gelangen musste er auf allen Vieren kriechen. Langsam ging er auf die Knie, immer darauf bedacht, dass er nicht gesehen werden konnte. So erreichte er schnell den Spalt in der Ecke.
Schon der erste Blick bestätigte alle seine Befürchtungen. Erik und Ole saßen mit mürrischen Gesichtern auf der halben Höhe des Berghangs und starrten auf das Haus. Sie sprachen kein Wort. Dann sammelte Erik ein paar Steine auf und versuchte ein, etwa 5 Meter weit entfernt stehendes, kleines Schild zu treffen. Er stellte sich dabei nicht schlecht an. Immer wieder war ein metallisches Plonk zu hören, welches einen weiteren Treffer des Schützen verkündete. Dietrich lehnte sich kraftlos an die Balkonwand zurück und starrte in den Himmel. Er hatte sofort begriffen, was die Anwesenheit ihrer schlimmsten Widersacher zu bedeuten hatte:
„Hier kommen wir nie heraus. Die sitzen auf dem Berg und beobachten das Haus. wir haben hier, auf dieser Seite, keine Chance ungesehen rauszukommen.“
Max wurde blass im Gesicht. Aber er gab die Hoffnung noch nicht auf:
„Verdammt! Vielleicht schaffen wir es ja raus zu kommen, wenn wir schnell vom Balkon runterspringen und vor zur Straße laufen. Dort sind Menschen. Da werden die beiden Steinbrecher uns bestimmt nichts tun.“
Dietrich schüttelte den Kopf. Er wusste, dass dies nicht möglich war. Sobald die beiden Rabauken sie zu Gesicht bekommen würden, würden sie sich auf sie stürzen. Sie mussten dann an zwei Häuser vorbeirennen, bevor sie die Straße erreichen würden, denn dieser Wohnblock hatte drei Eingänge. Das war zu viel. Aber Dietrich wollte die Lage dennoch peilen. Denn viel mehr Möglichkeiten hatten sie nicht.
„Ich schaue mich einmal vor den Balkon um.“
In tiefgebückter Haltung schob er sich zur großen Lücke in der Balkonwand hin. Hier würde später einmal ein 1 Meter breites Gitter angebracht werden. So wie es bei allen Häuser der Siedlung vorgesehen war. Vom Gitter war allerdings noch nichts zu sehen. Vorsichtig schaute er, wie es direkt vor dem Balkon aussah. Resigniert fuhr er zurück.
Vor dem Balkon war noch immer die steile Schräge von der Baugrube, die zur Hauswand abfällt und einen tiefen Abgrund bildete. Einen viel zu tiefen Abgrund! Er hätte dort vielleicht hinunterspringen können. Selbst für ihn wäre dies sehr gefährlich gewesen. Anschließend wäre er bis zur Hauswand hinuntergerutscht. Sein Bruder wäre dann noch immer auf dem Balkon gewesen, denn dieser konnte hier auf keinen Fall hinunterspringen. Dietrich hätte ihm irgendwie runter helfen müssen. Selbst wenn das gegangen wäre, es hätte viel zu lange gedauert. Bis Max unten gewesen wäre, wären Erik und Ole schon dagewesen.
„Nein, wir kommen hier nicht raus. Da ist ein tiefer Graben.“,
erklärte er seinem wartenden Bruder. Er kroch noch einmal zum Spalt in der Ecke zurück:
„Die Grube geht die ganze Hauswand entlang. Wir kommen also weder über diesen, noch über den anderen Balkon, noch über ein Fenster hinaus. Wir müssen uns einen anderen Weg suchen.“
Vorsichtig bewegte er sich wieder in das Wohnzimmer zurück. Max starrte vor sich hin:
„Wie sollen wir denn hier rauskommen?“
„Ich weiß es nicht. Im Notfall müssen wir doch durch die Haustür und uns von den Bauarbeitern erwischen lassen. Das ist auf jeden Fall besser als uns von den beiden Jungs verkloppen zu lassen. Aber die Grube, hier auf dieser Seite, hat auch ihr Gutes. Sonst wären Erik und Ole schon längst über den Balkon in das Haus hineingelangt.“
Die ganze Zeit über waren nur die beständigen, von draußen hereindringende, Arbeitsgeräusche der beiden Handwerker zu hören gewesen. Doch plötzlich tönten ein lauter Schlag und ein heftiges Poltern durch das Haus. Die beiden Jungen blieben wie erstarrt stehen. Angestrengt lauschten sie in das Haus hinein. Aber es war alles wieder so ruhig wie vorher.
„Sind die Arbeiter drinnen?“,
fragte Max sehr aufgeregt.
„Vor ein paar Augenblicke habe ich sie noch vor dem Haus herum werken gehört. Auch jetzt kommen die Geräusche von draußen. Aber wir sehen zur Sicherheit einmal nach. Wir gehen in das Schafzimmer.“
Das Schlafzimmer war der angrenzende Raum, der seinen Eingang über das Wohnzimmer hatte. Sie durchquerten vorsichtig den Raum, bleiben an der Wohnzimmertür stehen, schauten um die Ecke in den langen Flur und überzeugten sich, dass dieser leer war. Schnell huschten sie an der Tür vorbei, zur sich daran anschließenden Wand. Diese folgten sie bis zur Schlafzimmertür.
Das Schlafzimmer hatte eine große Fensterfront. Es war also recht gut möglich, von außen in den Raum hinein zu blicken. Dietrich befahl Max an der Tür stehen zu bleiben. Er wollte allein in den Raum hinein gehen. Dazu drückte er sich an die rechte Wand und schob sich langsam zum Fenster hin. Jeden Augenblick konnten die Arbeiter in sein Blickfeld geraden. Er kam bis zur Mitte der Wand. Dann konnte er sie erblicken. Die Arbeiter waren immer noch draußen an der Arbeit.
Langsam schob sich Dietrich wieder zurück, zu seinen wartenden Bruder. Er sagte ihm Bescheid.
„Was hat denn dann diesen Krach gemacht?“
Dietrich wusste darauf keine Antwort.
„Wir müssen nachschauen gehen! Wir gehen erst einmal in den Flur zurück!“
Das taten sie dann auch und blieben in Höhe der Küche stehen. Dort lauschten sie erneut angestrengt in das Haus hinein. Zunächst war nichts zu hören. Aber irgendwann glaubte Dietrich leise Schritte hören zu können. Er flüsterte es Max zu:
„Hier ist noch jemand im Haus. Weiter oben. Komm, wir gehen in das Treppenhaus, vielleicht hören wir dann mehr.“
Langsam gingen sie den Flur entlang, bis sie zur Wohnungstür gelangten. Wieder versicherten sie sich zunächst, dass niemand in der Nähe war. Dann traten sie leise in den Treppenaufgang und blieben erneut lauschend stehen. Dietrich hörte es sofort:
„Da oben flüstert jemand. Das kann kein Bauarbeiter sein. Da versteckt sich jemand, genauso wie wir.“,
flüsterte er Max leise zu.
„Wer weiß, wer das ist. Ich möchte hier raus!“
„Du kommst jetzt nicht nach draußen. Sieh das endlich ein! Ich werde mich ganz leise nach oben schleichen und schauen, wer da ist. Du bleibst hier!“
„Bist du verrückt? Ich sage, wir bleiben beide hier. Wir verstecken uns einfach irgendwo.“
„Wo willst du dich denn verstecken, in einem Haus ohne Türen. Hier gibt es nichts was dich verbergen kann. Aber ich muss einfach nachschauen, wer mit uns hier im Haus ist. Darum werde ich jetzt hochgehen.“
„Dann komme ich mit! Ich bleibe hier nicht alleine!“
Er wusste, dass er Max auf keinen Fall alleine lassen durfte. Er war so voller Angst, dass er womöglich Blödsinn machen würde. Aber konnte er ihn mitnehmen? Was wäre denn, wenn er plötzlich fliehen müsste? Sollte er doch hier unten bleiben? Nein, er wollte wissen, wer da oben rum macht. Notgedrungen entschloss er sich:
„Also gut, wir gehen beide nach oben. Aber erst einmal nur ein Stockwerk! Dann sehen wir weiter. Sei leise und pass auf wo du hintrittst“
Ali und Muck
Dietrich lauschte noch einmal angestrengt in den Treppenaufgang hinein. Von dort drangen im Moment keine verdächtigen Geräusche an sein Ohr. Langsam begab er sich in das Treppenhaus. Dabei richtete er seinen Blick immer starr nach oben. Max folgte ihm auf den Fersen. Dietrich hielt sich dicht an der Wand und überwand mit langsamen Schritten die 8 Stufen zum Treppenabsatz zwischen den beiden Stockwerken. Über fast die gesamte Breite dieses Absatzes ging eine große, mannshohe Maueröffnung, in der einst die Treppenhausfenster eingesetzt werden sollen. Hier mussten sie ungesehen vorbeikommen. Das war nicht leicht. Gerade hier, zwischen Erdgeschoss und dem ersten Stock, hatte man von außen einen guten Einblick in das Haus. Jede auffällige Bewegung musste von draußen sofort erkennbar sein.
Zum Glück waren die Handwerker jedoch etwas weiter hinten, fast am Ende des Hauses in ihre Arbeit vertieft. Dort hatten sie das Treppenhaus nicht voll in ihrem Blickfeld. Aber waren die Handwerker auch wirklich noch dort? Dietrich war sich nicht sicher. Er musste die Lage erst einmal peilen.
Er wollte sich aus der schmalen Ecke, in der er mit seinem Bruder erst einmal Deckung gesucht hatte, etwas heraus beugen damit er nach hinten schauen konnte. Nur so konnte er sich über den Standort der Männer orientieren. Doch die haltlose Tiefe, die sich direkt vor ihm auftat erschreckte ihn augenblicklich. Er fuhr zurück, lehnte sich an die Wand und atmete erst einmal tief durch. So ging das nicht. Die Tiefe machte ihn Angst. Um etwas sehen zu können musste er sich auf allen Vieren begeben um dann einen Blick um die Ecke riskieren zu können. Genau so tat er es auch. Er sah die Arbeiter sofort. Sie waren in ihrer Arbeit vertieft und schienen die Welt um sich herum nicht wahrzunehmen. Und dennoch jeder zufällige Blick konnte sie entdecken, wenn sie an diesem Fenster vorbei gingen.
„Wir müssen am inneren Rand des Absatzes am Fenster vorbei gehen. Dann können sie uns nicht so leicht sehen. Anschließend gehen wir auf der inneren Seite der Treppe weiter hoch. Sei aber vorsichtig und mache keine wilden Bewegungen. Die würden nur die Aufmerksamkeit der Handwerker erregen. Und wenn du stolperst, stürzt du die Treppe hinab.“
Behutsam ging er vor. Max hielt sich an einen Zipfel des Hemdes von Dietrich fest und folgte ihm. Sobald er die, nach oben führende Treppe erreicht hatte, stieg er sie am wandfernen Rand nach oben. Aber der Abgrund neben ihm schauderte ihn zu sehr. Ein seltsames ziehen ging durch seinen Bauch und die Knie fühlten sich ganz weich an. Schnell ging er zur anderen Treppenseite. Hier fühlte er sich einfach sicherer. Bald erreichten sie den ersten Stock. Auch hier gingen drei Wohnungen ab. Dietrich wollte gleich wieder in die große Wohnung hinein gehen. Schnellen warf er noch einen Blick in die Wohnung hinein, vor dessen Wohnungstür sie gerade angekommen waren. Er sah einen kurzen Flur, von dem vier Türen abgingen. Alles schien ruhig zu sein. Er war sich sicher: In dieser Wohnung war niemand drinnen. Schnell wandte er sich nun der großen Wohnung zu. Sie durchsuchten alle Räume, fanden aber niemanden, der hier herumstrolchte.
„Ich glaube, hier auf dem Stockwerk ist niemand.“,
flüsterte er Max zu.
„Wollen wir nicht in die Wohnung gegenüber schauen? Da könnten sie genauso gut sein.“,
protestierte dieser sofort.
„Ich habe da doch hinein gelauscht, da war nichts zu hören. Außerdem glaube ich, dass das Geräusch von weiter oben kam.“
„Trotzdem, lass uns auch diese Wohnung durchsuchen. Sonst sind sie plötzlich unter uns und wir kommen hier überhaupt nicht mehr raus.“
Dietrich war genervt von dem übervorsichtigen Bruder. Aber insgeheim musste er sich eingestehen, dass er wieder einmal recht hatte.
„Na gut. Dann schauen wir uns dort drüben auch noch um.“
Ohne größere Vorsicht betraten sie nun die gegenüberliegende Wohnung. Ihr Schnitt war ihnen unbekannt. Der erste Raum auf der linken Seite war recht schmal und hatte nur ein kleines, schmales Fenster an seiner Stirnseite. So wie bei einer Toilette. Der daneben liegende Raum war auch recht klein und schien quadratisch zu sein.
„Dies wird wohl die Küche sein.“,
mutmaßt er gegenüber seinem Bruder, dem diese Botschaft nicht gerade vom Sockel haute.
Sie gingen weiter zur nächsten Tür. Dieser Raum war zum Wohnen gedacht. Es war ein recht großer Raum, mit einem großen Fenster zu der Seite hinaus, auf der die Arbeiter tätig waren. Wie alle anderen Räume dieser Wohnung, war auch dieser Raum vollkommen leer. Der Raum, der auf der rechten Seite lag, war der größte Raum in dieser Wohnung und hatte einen Balkon. Dietrich eilte sofort zum Fenster und wollte schnell einmal hinausschauen, doch er hörte schon vom weiten die Widersacher reden. Ihre Stimmen waren sehr laut. Wahrscheinlich saßen sie noch immer auf dem Berg und hielten Wache. Er verzichtete darauf den Balkon zu betreten. Rechthaberich wandte er sich an seinen Bruder:
„Du siehst also, auch hier ist niemand versteckt. Wir müssen noch höher gehen So wie ich es gleich gesagt habe.“
Mit einem Mal wurde der Lärm von draußen lauter, so als würden die beiden Brüder nun direkt vor dem Haus stehen. Eine Anfeuerung ertönte:
„Los, spring!“
Anschließend hörte man schwere rennende Schritte und dann etwas, das sich anhörte, als sei etwas Schweres zur Erde gefallen. Dann hörten sie ein rieselndes Geräusch, wie beim Abrutschen von Erde. Von unten erschallte ein Fluch von Erik.
„Verdammt ich bin zu kurz gesprungen. Ich erreiche diesen elenden Balkon nicht.“
Dietrich war besorgt. Hatte er vor kurzem nicht geglaubt, die beiden Brüder könnten nicht über den Balkon in die Wohnung gelangen? Waren sie gerade dabei es zu probieren? Dietrich ahnte die Wahrheit, wollte sich aber mit eigenen Augen überzeugen.
„Ich muss unbedingt nachschauen! Du bleibst hier und bist still!“
Mehr brauchte er nicht zu sagen. Auch Max ahnte was los war. Er lehnte sich an eine Wand und starrte wortlos nach draußen. Dietrich eilte zum Balkon. Die Tür lag auf der linken Seite des Balkons während die schon erwähnte obligatorische Lücke auf der rechten Seite lag. Man konnte von unten also nicht sehen, wenn jemand den Balkon betrat. Er ließ sich dennoch auf allen Vieren nieder und krabbelte zum Spalt in der Ecke. Von hier aus konnte er auf das Gebirge sehen. Dort saß niemand mehr.
Jetzt hörte er Ole, wie er seinen Bruder verhöhnte:
„Stell dich nicht so an. Schaffst du diesen kleinen Sprung nicht? Versuche es noch einmal. Und nimm einfach etwas mehr Anlauf!“
„Sei doch still, du Depp. Du kannst nur herumreden? Wenn du es besser weißt, warum machst du es dann nicht selber?“
„Komm, du Versager, sei du doch besser still. du warst doch immer der Sportlichere. Ich habe so etwas noch nie gern gemacht. Also, wenn du auf den Balkon willst, dann musst du eben besser springen!“
Gleich darauf hörten die beiden Brüder vor der Wohnung wieder Schritte. Zunächst schienen sie sich vom Haus zu entfernten und sie ahnten, dass Eric einen weiteren Versuch wagen wollte. Tatsächlich vernahmen sie gleich darauf schneller werdende Schritte, die auf das Haus zu rannten. Dietrich lehnte sich an die Balkonwand zurück und lauschte angespannt auf das Geschehen. Ein erneuter Absprung erfolgte. Er hielt den Atem an. Dafür schien sein Herz zu rasen. Die eine Sekunde wurde zur Ewigkeit. Schafft er es dieses Mal? Doch dann hörte er wieder dieses Plumpsen in die Grube. Etwas Schweres rutschte die Böschung hinunter und Erde rutschte mit einem typischen Geräusch nach. Ohne Zweifel hatte Erik es wieder nicht geschafft. Dietrich blies die Luft aus seinen Lungen. Ole lästerte wieder:
„Ist das alles, was du zuwege bringst. Das könnten die Müllerbuben ja besser.“
„Halts Maul! Sonst hau ich dir eine rein. So klappt die Sache einfach nicht! Ich muss etwas Anderes versuchen.“
Was wollte Erik versuchen? Die Unmöglichkeit etwas zu sehen machte Dietrich verrückt. Nach unten schauen konnte er nur von der Gitterlücke aus. Aber dahin wollte er auf keinen Fall kriechen. Zum einen war es ein noch tieferer Abgrund, in den er dann ohne Schutz hätte blicken müssen und zum anderen wäre die Gefahr viel zu groß gewesen, sofort gesehen zu werden. Er musste sich einen anderen Ausblick suchen. Er wusste auch, wo dieser lag. Langsam rückwärts kriechend bewegte er sich wieder auf die Balkontür dieser Wohnung zu. Er wagte es sich erst aufzurichten, als er etwa zwei Meter tief im Raum war. Max stand immer noch vollkommen bleich an die Wand gelehnt. Er rührte sich nicht:
„Die Steinbrechers versuchen über den Balkon unter uns in das Haus zu kommen. Noch haben sie es nicht geschafft. Aber ich kann nichts sehen, um sagen zu können, welche Chance sie haben. Daher will ich rüber in die andere Wohnung gehen. Von deren Balkon kann ich die beiden vielleicht beobachten. Wenn wir sehen, dass sie tatsächlich reingekommen sind, müssen wir ganz schnell nach oben unters Dach verschwinden. Vielleicht können wir uns dort dann verstecken.“
Während Dietrich dies sagte unternahm Erik einen weiteren Versuch. Aber ein erneutes Plumpsen verriet ihm, dass auch dieser Sprung gescheitert war. Eriks neuer Plan drang an seinen Ohren:
„Ich werde mich unter den Balkon stellen und versuch, den Meter nach oben zu springen!“.
„Versuch es nur, du wirst schon sehen, was du davon hast.“, antwortete sein Bruder ohne großen Elan aber mit einem deutlich hörbaren Spott in der Stimme.
Leise eilten sie aus der Wohnung heraus, hinüber zur Größeren. Sie waren gerade an der mittleren Wohneinheit vorbeigeeilt, als sie plötzlich von hinten ergriffen wurden. Zwei kurze, nicht allzu laute Überraschungsschreie ertönten.
Die Steinbrecher, dachte Dietrich erschrocken, als er von kräftigen Armen umschlossen wurde. Dietrich wollte sich instinktiv hinwerfen, um der Umklammerung entgehen zu können. Aber die ihm umschließende Arme waren zu kräftig für ihn. Mühelos hielten sie ihn fest. Dann versuchte er sich umzudrehen um zu sehen wer der Angreifer war. Aber auch das misslang ihm aus zwingenden Gründen. Verzweifelt trat er nach hinten. Er erwischte kein Ziel. Jeder Versuch sich zu befreien scheiterte kläglich. Lautstark verlangte er losgelassen zu werden.
Doch dann hörte er eine ihm nicht unbekannte Stimme flüstern:
„Sei verdammt noch einmal still und macht keinen Unsinn. Ich werde dich jetzt loslassen.“
Schon lösten sich die Klammern um seinen Körper. Wütend fuhr er herum. Nun erst erkannte er, welches Gesicht zu der ihm doch so vertrauten Stimme gehörte: Muck!
Er sah zu seinem Bruder hinüber. Auch er war frei. Neben ihm stand Ali.
„Ihr habt uns vielleicht erschreckt. Was macht ihr den hier?“
Muck antwortete ihm nicht sofort und sah ihn böse an. Ali ergriff das Wort:
„Was macht ihr beiden Knirpse denn hier im Haus. Ihr müsst sofort verschwinden. Ihr stört uns!“
„Aber die Steinbrechers jagen uns doch. Und nun wollen sie in das Haus eindringen. Wir haben ganz schön Angst! Wir wollten gerade schauen, ob sie es schaffen ins Haus zu kommen. Dazu müssen wir in die andere Wohnung.“
Max stand ein wenig abseits. Er war vollkommen blass und schaute starr zur Wohnungstür, durch die sie gerade gekommen waren. Die Aussicht, die Steinbrechers könnten in die Wohnung gelangen, versetzten ihn in Aufruhr. Dietrich befürchtete schon, sein kleiner Bruder könnte vor Angst wieder losheulen, oder gar einfach davonrennen. Ali schien dies zu ahnen. Er blieb in seiner Nähe. Muck lachte kurz auf und gab sich erstaunlich zuversichtlich:
„So, wie die sich im Moment anstellen, schaffen sie es nie!“
„Woher willst du das wissen?“
Dietrich wusste nicht, ob er eher überrascht über Mucks Zuversicht, oder doch wütend über eine so leichtfertige Äußerung war.
„Ich weiß es, weil wir es ebenfalls so versucht haben. Wir haben es nicht geschafft. Und wir sind wesentlich sportlicher als die da draußen. Der Graben ist zu weit, und der Balkon hängt doch recht hoch. Du kannst vom Rande der Böschung nicht richtig abspringen, da dann die Erde sofort nachgeben würde. Deshalb musst du ein wenig früher abspringen. Und das wiederum heißt, du musst noch weiter springen. Das schaffst Du aber nicht. Wenn du aber versuchen würdest direkt von der Böschung hochzuspringen, so wie Erik es nun versuchen will, haut es schon gar nicht hin. Beim Absprung werden dir sofort die Beine weggerissen und du fällst auf dein verlängertes Rückgrat. Hörst du es? Schon ist es passiert!“
Von draußen drang erneut ein wütender Schrei in das Haus. Gleichzeitig war aber aus dem Keller eine Reaktion zu hören. Die beiden Bauarbeiter müssen die Aktion der beiden Jungen mitbekommen haben:
„He, ihr Lümmel, was macht ihr da. Verschwindet sofort von hier! Wenn wir euch hier noch einmal erwischen, holen wir die Polizei!“
Die beiden Steinbrechers beschimpften großmäulig die Bauarbeiter, die ihnen durch das Kellerfenster nicht gefährlich werden konnten. Aber ihr wütendes Geschrei wurde leiser, da sie sich offensichtlich entfernten. Schließlich kehrte wieder Ruhe in und um das Haus ein.
„Seht ihr, sie kommen da nicht rein. Sie bräuchten ein langes Brett, um auf dem Balkon zu gelangen. So etwas findet sich hier aber nicht leicht. Wir haben da unsere Erfahrung gemacht. Durch ein Kellerfenster können sie auch nicht hineinkommen, da unten ständig die Bauarbeiter herum machen. Und vor denen haben die schrägen Vögel einen wahnsinnigen Respekt. Vor diesen beiden Halunken haben wir erst einmal Ruhe. Wir gehen jetzt nach oben und dort sehen wir weiter. Aber seid leise. Ihr wisst, die Bauarbeiter können jederzeit unten im Keller sein. Ali schaue nach, wohin die beiden üblen Gesellen verschwunden sind!“
Der angesprochene betrat sogleich die kleine mittlere Wohnung, aus der sie gekommen waren. Er kam jedoch gleich wieder raus:
„Sie sitzen wieder auf dem Berg und zanken miteinander! Wir können beruhigt nach oben gehen!“
Muck ging voran, Ali bildete den Abschluss der kleinen Karawane. Er verschwand immer wieder einmal in eine der Wohnungen und schaute durch ein Fenster, sowohl auf der einen als auch auf der anderen Hausseite.
Am Dachboden war es sehr heiß. Wenige kleine Dachluken ließen ein düsteres Licht in die Dachfluchten hinein. Die hellen dicken Balken des Dachstuhls gaben einen seltsamen Geruch ab. Die beiden Hälften des Daches waren noch nicht durch Holverschläge in Speicherräume für die späteren Mieter unterteilt. Nur die Mauern, die den Dachboden vom Treppenhaus abtrennten und die überall nach oben strebenden Schornsteinen, erzeugten unter dem Dach eine gewisse Einteilung. In dem größeren Teilstück des Daches waren verschiedene Utensilien und Baumaterialien abgestellt worden. Eine Leiter lag unordentlich auf dem Boden. So als wäre sie dort umgefallen. Ali und Muck führten sie in den kleinen mittleren Teil des Dachgeschosses. Dieser Raum war auf allen drei Seiten gemauert. In der linken Ecke lag eine bunte Kolter ausgebreitet. Auf dieser lagen zwei halbvolle Flaschen mit Cola und ein scheinbar schnell hingeworfenes Kartenspiel.
„Setzt euch auf die Decke. Wollt ihr was trinken?“,
bot Muck barsch an.
Dietrich lehnte das Angebot ab. Obwohl er schon eine ganze Weile nichts getrunken hatte und Cola eigentlich sein Lieblingsgetränk war. Es war alles so verwirrend, im Moment. Er würde nicht hinunter bekommen. Auch wollten die beiden Jungs, die eigentlich ihre Freunde zu sein schien, sie scheinbar unbedingt wieder loswerden. Es war noch nicht sicher, dass sie sie nicht einfach vor die Tür setzen würden. Dann konnten Dietrich und Max sich aussuchen, von wem sie Prügel beziehen wollten. Max schien jedoch keine solchen Befürchtungen zu haben. Er ließ sich einen Schluck der braunen Limonade schmecken. Allerdings nippte auch er nur kurz an der Flasche. Ihn schien die Situation also auch nicht geheuer zu sein.
„Was macht ihr hier?“,
fragte Dietrich erneut.
Muck setzte sich zu ihnen auf die Decke. Er hatte eine saubere braune Stoffhose an und trug ein gebügeltes weiß/blau kariertes Hemd, deren Ärmel recht breit und ordentlich bis zu Ellenbogen aufgekrempelt waren. An seinen Füßen waren, in verschiedene Blautönen karierte Socken zusehen, die in gepflegten mittelbraunen, fast geschlossene Sandalen steckten. Sein braunes Haar war kurz geschnitten und ohne Scheitel nach hinten gekämmt. In seinem ovalen Gesicht konnte man leichte Bartstoppel erkennen. Er sah die kleinen Jungen mit seinen braunen Augen streng an.
„Das ist nicht die richtige Frage, denn die lautet: Was macht ihr hier im Haus?“
„Es ist wegen den Steinbrechers. Sie haben uns gerade in den Bergen überfallen. Daher sind wir in das Haus geflohen. Jetzt sitzen sie auf der einen und die Bauarbeiter auf der anderen Seite des Hauses und wir können nicht wieder hinaus ohne Prügel zu bekommen.“
Muck schaute nun erstaunt zu Dietrich. Dann warf er einen Blick zu seinem Bruder, der am Eingang des Raumes stand und Wache hielt. Ali gab sich zuversichtlich:
„Ach, das mit dem Rauskommen wird sich schon Regeln lassen. Aber erzählt uns einmal, wie sie euch überfallen haben.“
Dietrich begann sofort mit der Erzählung. Max fügte eifrig immer wieder weitere Details hinzu, von denen er meinte, dass auch diese sehr wichtig seien. Gespannt hörten die Bauer-Brüder zu. Als die Erzählung an die Stelle kamen, an der Erik seinen Satz in die Brennnessel gemacht hatte lachten Ali und Muck lauthals auf:
„Da wäre ich gerne dabei gewesen!“,
flachste Ali und Muck fügte hinzu:
„Den Trick mit den Brennnesseln müssen wir uns unbedingt merken.“
Aber dann wurde er ernst:
„Das ist eine ganz fiese Tour, was die beiden da mit euch gemacht haben. Dafür werden sie noch bezahlen müssen. Sie werden ganz schön wütend gewesen sein, als sie von den Arbeitern das erste Mal erwischt und verjagt worden waren. Ausgerechnet in diesen Augenblick seid ihr ihnen in die Arme gelaufen. Das war echt Pech für euch.“
„Ja, und jetzt sitzen wir hier fest.“,
warf Max zur Erinnerung ein.
„Ach was! Wir werden euch hier schon rausbekommen. Wir haben da unseren Weg. Aber zunächst müssen wir erst die Sache mit den Steinbrecher zu Ende bringen. Das Dumme ist, das sie uns hier nicht sehen dürfen, sonst klappt alles nicht und wir liegen hier umsonst auf der Lauer.“
„Was macht ihr denn eigentlich hier?“,
fragte Dietrich nun zum dritten Mal.
„Wir wollen dem Erik etwas abjagen, das er dem Vater unseres Freundes Michael gestohlen hat.“,
erklärte Muck die neugierigen Brüder endlich auf.
„Wir sind schon eine ganze Weile hier im Haus. Wir warten auf die Steinbrechers. Wir glauben, sie haben das Ding hier im Haus versteckt und nun wollen sie es sich wieder zurückholen. Leider kommen sie nicht an den Arbeitern vorbei. Sonst hätten wir sie schon längst überrascht!“,
fügte Ali der Erklärung seines Bruders hinzu.
Einen Moment war Dietrich sprachlos. Das eben Gehörte war einfach unbegreiflich. Da wollen sich Ali und Muck mit den beiden schlimmsten Gesellen anlegen, die diese Siedlung beherbergte. Diese wiederum klauen einfach das Zeug von anderen Leuten. Das alles gehörte zu einer Welt, in der er noch gar nicht hineinpassen wollte. Endlich fand er seine Sprache wieder:
„Habt ihr denn keine Angst vor den beiden?“
„Ach was, mit denen werden wir schon fertig.“,
brüstete sich Ali selbstbewusst, der noch immer an der Tür stand und in das Haus hinein lauschte. Er war etwas kleiner und jünger, aber genauso schlank wie Muck. Auch er war schon deutlich über zehn Jahre alt. Er hatte eine blaue Jeans, die von einem geflochtenen hellbraunen Gürtel mit großer Schnalle gehalten wurde und ein weißes, ebenfalls gebügeltes, kurzärmliges Hemd an. Seine braunen Haare waren wie die vom Muck nach hinten gekämmt. Seine Füße steckten in saubere weiß/blaue Turnschuhe aus Leinenstoff.
Dietrich war diese Beteuerung des kleineren Bauer-Bruders nicht ganz geheuer. Wie konnte man mit so schlimmen Kerlen fertig werden wollen? Aber er musste ihnen ihre Zuversicht einfach abnehmen. Langsam wich seine Beklemmung und Neugierde gewann die Oberhand:
„Was haben die beiden denn geklaut?“
„Eine silberne Statue, die Herr Schmitz einmal gewonnen hatte! Sie ist sehr wertvoll.“
„Was ist denn eine Statue?“,
fragte Max dazwischen.
„Es ist eine etwa dreißig Zentimeter hohe Figur, die zwei miteinander kämpfende Ringer darstellt.“,
erklärte Muck geduldig. Aber Max gab sich mit der Antwort nicht zufrieden:
„Ringer! Wieso Ringer? Wie kann man denn so eine Figur gewinnen?“
„Langsam fragst du mir aber Löcher in den Bauch. Man kann eine solche Statue gewinnen, wenn man ein großes Turnier als Sieger beendet. Frag gar nicht erst weiter! Herr Schmitz war früher einmal ein außerordentlich guter Ringer. Er hat viele Turniere gewonnen. Einmal wurde er sogar der beste Ringer von Deutschland. Dafür hat er diese Figur als Preis bekommen. Du siehst, diese Figur ist nicht nur wertvoll, weil sie aus Silber ist, sondern auch, weil sie Herrn Schmitz an einen sehr großen Erfolg erinnert.
Der Erik Steinbrecher war gestern Mittag in der Wohnung von Herrn Schmitz. Danach hat die Statue gefehlt. Er hat dies bald bemerkt und die Polizei gerufen. Diese waren bei den Steinbrechers, haben aber nichts gefunden. So hat es uns sein Sohn, der Michael erzählt. Wir kennen uns vom AC Eckenheim, da wir dort schon seit einigen Jahren zum Ringen gehen.“
„Aber warum glaubt ihr, dass die beiden Übeltäter ihre Beute hier im Haus versteckt haben?“,
fragte Dietrich nach.
„Wisst ihr, der Eric war offenbar ganz schön sauer, dass Herr Schmitz ihm die Polizei auf den Hals gehetzt hat. Wahrscheinlich deshalb hat er gestern Abend Schmitz´ Wagen von der Straße geholt, ihn neben dessen Haus gestellt und dort angezündet. Wir haben das von unserer Wohnung aus beobachten können. Natürlich sind wir sofort zu Fenster raus geklettert, um mehr sehen zu können.
Wenn es nicht so ernst gewesen wäre hätten wir glatt Lachen mögen. Zu sechst haben sie den Wagen getragen, diese Bande, zu der auch Eric gehört. Oben in der Durchgangsiedlung leben die meisten seiner Freunde. Mit ihren Mopeds rasen sie in der Gegend herum, fühlen sich wie Rocker und sind doch nur Halbstarke.
„Leben da oben nur böse Menschen? Mutti sagt immer, dass wir dort nichts zu suchen haben. Es ist doch komisch, wenn die beiden Häuserblocks da oben Durchgangssiedlung heißen, und wir da auf keinen Fall durchgehen sollen.“,
warf Dietrichs Bruder verwundert ein.
„Max sein still und lass Muck weiter erzählen!“,
wies Dietrich seinen vorlauten Bruder zurecht. Aber dieser gab nicht auf:
„Ich wollte das immer schon wissen. Warum erklärt mir das denn niemand?“
Muck hatte ein Einsehen. Nun wurde auch Dietrich interessiert:
„Ich war einmal bei meinen Klassenkamerad Rainer daheim gewesen. Der wohnte in einem dieser Häuser. Es war komisch da drinnen. Dort gab es Toiletten, wie in der Schule. Drei Kabinen nebeneinander. Es gab eine große Küche, in der alle Schränke Vorhängeschlösser hatten. Und es gab drei Wohnräume. Aber Rainer wohnte mit seiner Familie nur in einem Raum. In den anderen Räumen wohnte jeweils eine andere Familie. Waren die Leute zu arm um sich etwas Besseres leisten zu können?“
Muck erklärte es nun:
„Nein die Leute da oben sind nicht alle Böse. Und sie sind auch nicht ärmer als andere Leute in der Siedlung. Viele Väter habe eine Arbeit. In Deutschland sind durch den Krieg viele Wohnungen zerstört worden. Und dann wurden aus Ostdeutschland viele Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Alle, die ihre Wohnung durch Zerstörung und Vertreibung verloren haben, müssen nun irgendwo wohnen. Die Wohnungen für sie werden aber erst gebaut. So müssen sie vorübergehend irgendwo untergebracht werden. Die Menschen, dort oben, sollen nicht in diesen Wohnungen bleiben. Deshalb nennt man diese Wohnungen Durchgangswohnungen. Da in diesen Häusern aber so viele Leute ganz eng zusammen wohnen gibt es dort einfach viele Probleme. Und dadurch werden die Menschen eben aggressiv. Und der Erik hat sich mit einigen von den schlimmsten von ihnen zusammengetan.“
Muck beendete seine Erklärung. Er wollte eigentlich etwas anderes erzählen. Doch er hatte den Faden verloren. Hilfesuchend schaute er zu Ali:
„Was wollte ich gerade erzählen?“
„Du hast gerade erzählt, wie sie den Wagen nach hinten getragen haben. Das war eine Szene! Sie wollten anscheinend keinen Lärm machen. Also schleppten diese sechs Verbrecher die Isetta über hundert Meter weit ohne irgendetwas zu reden. Den ganzen Weg entlang an den Häuser vorbei. Aber sie schnauften wie verrückt. Der Wagen wiegt sicher seine vierhundert Kilo. Es waren nur ihre trippelnden Schritte zu hören. Man konnte so gut wie nichts sehen, so stockdunkel war die Nacht. Sie brauchten fast zehn Minuten um dieses Werk zu vollbringen. Wir haben die Aktion zu spät bemerkt. So konnten wir nicht rechtzeitig Herrn Schmitz herausklingen. Gemeinsam hätten wir die Gauner schon vertrieben. Aber zu zwei war das Risiko zu groß, gehörig etwas abzukriegen. Außerdem ahnten wir ja nicht, was sie vorhatten. Sonst hätten wir es auf jeden Fall verhindert.
Sie stellten den Wagen so ab, dass Herr Schmitz ihn von seiner Wohnung aus hat sehen können. Irgendeinem der Halunken gelang es, das Schloss des Autos zu knacken. Dann muss diese Person eine Flüssigkeit im Wagen vergossen und entzündet haben. Sofort schlugen Flammen aus dem Wagen heraus. Aber der Brandstifter muss etwas abbekommen haben, denn er schrie fürchterlich auf. Wir beide waren einfach nur geschockt. Ich eilte sofort zum Telefonhäuschen und holte die Feuerwehr. Muck beobachtete weiter. Den Rest muss er erzählen.“
Damit beendete Ali seinen Bericht. Muck setzte die Erzählung fort:
„Die Flammen schlugen bald hoch in den Himmel. Bald zersprangen die Scheiben des Wagens mit einem Knall und ein seltsames rieselndes Geräusch. Das war wohl das Zeichen für die Bande, abzuhauen. Aber vorher klingelten sie Herrn Schmitz aus dem Haus. Der war sehr zornig, als er vor dem brennenden Auto stand. Die Feuerwehr kam bald und löschte den Brandt schnell.
Wir waren gut versteckt gewesen und konnten alles, was dort vor sich ging sehr genau beobachte. Gerade als der Wagen in Brandt ging, stand Erik mit einem seiner Freunde in unserer Nähe. Der unbekannte Freund fragte Erik, was denn mit dem Pokal sei, er hätte schon einen Käufer an der Hand. Erik tat etwas geheimnisvoll und antwortete ihm schließlich, der Schatz sei dort, in jenem Haus gut versteckt und er würde ihn gleich morgen holen gehen. Der Unbekannte drängt ihn noch, den Pokal sofort zu holen. Das lehnte Erik aber energisch ab. Nach dem was gerade geschehen sei, wäre es nur zu wahrscheinlich, dass die Polizei wieder bei Ihnen erscheinen würde. Es sei besser, der Pokal bleibe, wo es ist. Der Dealer drängelte aber weiter. Er könne das Ding ja zu sich nehmen. Aber auch dies lehnte Erik sofort ab. Mir schien, er hatte kein sonderliches Vertrauen zu dem Freund. Er war im Übrigen sehr erschrocken, als das Auto in Flammen aufging. Ich glaube, er hat nicht damit gerechnet. Das war ein Alleingang seiner Freunde. Aber er ist dennoch genauso schuldig wie die Anderen. Er hat ja schließlich alles ausgelöst. Jetzt wehrte er das Begehren seines Gegenübers mit den Worten ab, die Polizei könne ja auch zu ihnen kommen. Doch das wollte der Andere nicht gelten lassen. Woher sollte die Polizei denn von ihnen wissen. Es gab doch keine Zeugen. Doch Erik meinte nur: Du weißt nie, was hinter all den Gardinen vor sich ginge. Damit war die Sache erledigt und die beiden verschwanden mit den Anderen in das Dunkle der Nacht.
Wir haben das alles natürlich Herrn Schmitz erzählt. Er ist jetzt unterwegs um das Nötige zu veranlassen. Die Polizei weiß natürlich auch Bescheid. Aber sie kann auf Grund des Geredes von Erik sich hier im Haus natürlich nicht auf die Lauer legen. Das finden wir überhaupt nicht gut. Deshalb haben wir uns entschlossen, dass wir das eben selber tun. Wenn wir Erik hier erwischen, können wir ihn der Polizei, zusammen mit der Beute, übergeben.
Wir warten jetzt schon eine ganze Weile auf ihm. Dann kamen sie zu zweit. Überraschender Weise war der Ole dabei. Aber sie konnten nicht in das Haus hineingelangen, da die Arbeiter aufpassen. Es ist aber wichtig, dass wir sie hier mit der Beute erwischen können. Nur so kann bewiesen werden, dass sie auch die Diebe sind. Dummerweise konnten wir das Versteck nicht finden. Wir haben schon das ganze Haus durchsucht, auch den Keller, als die Handwerker noch nicht da waren. Leider haben wir nichts entdecken können.“
„Schade, es wäre gut, das Versteck zu kennen.“,
fügte Ali hinzu und zog resigniert die Achseln hoch.
„Ich weiß, wo das Versteck ist!“,
hörte man plötzlich die Stimme von Max triumphieren. Verdutzt schaute jeder zu ihm hinüber.
Das Versteck
Max hatte sich voller Stolz aufgerichtet und sah die anderen erwartungsvoll an. Ali und Muck gaben ihm skeptische Blicke zurück. Dietrich konnte seinen Bruder nicht ernst nehmen. Er glaubte Max hatte mal wieder einen seiner „phantastischen“ Momente, in denen er Traum und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden schien:
„Woher willst du denn wissen wo das Versteck ist?“,
fragte er ihn deshalb mehr als herausfordernd.
„Ich weiß es eben! Und ich bin mir ganz sicher!“,
ließ sich sein kleiner Bruder nicht beirren.
„Dann zeige es uns doch!“,
forderte Ali ihn auf.
„Dazu müssen wir runter ins Erdgeschoss gehen!“
Noch bevor sie dieses Gespräch fortsetzen konnte, zischte Ali plötzlich eine Warnung:
„Seid still! Einer der Bauarbeiter ist im Treppenhaus. Er kommt langsam nach oben. Wir müssen hier weg!“
„Schnell, packt alles zusammen!“,
befahl Muck schnell. Doch Ali drängte zur Eile:
„Nein dazu ist es zu spät. Wir müssen sofort runter in die kleine Wohnung. Auf deren Balkon sind wir einiger Maßen sicher. Schnell!
Warum Ali dieser Meinung war, war Dietrich überhaupt nicht einsichtig. Aber er fügte sich den Anweisungen, des älteren Freundes. Ali ging rasch, aber dennoch sehr behutsam die Treppe hinunter. Alle anderen folgten ihm genauso behutsam. Auf dem mittleren Absatze flüsterte er schnell zu Muck:
„Wir schaffen es nicht in die kleine Wohnung. Wir müssen in die Große gehen.“
Sofort setzte er seine Flucht fort. Nun hörten auch Dietrich und Muck den Arbeiter. Er hatte das Erdgeschoss offensichtlich schon passiert und war nun auf dem Weg in den ersten Stock. Der jüngere Bauer Bruder erreichte den Eingang zur großen Wohnung und schlüpfte sofort hinein. Er blieb im Flur stehen und dirigierte Dietrich und Max in die kleine Toilette hinein:
„Presst euch an die Wand und seid still! Schnell!“
Sie folgten ihm aufs Wort. Muck zwängte sich an den beiden vorbei und stand nun hinter ihnen. Ali stellte sich als letzter in den Raum. Er war der Tür am nächsten. Jetzt erkannte Dietrich auch, warum sie in diese Wohnung mussten: Um die andere Wohnung zu erreichen hätten sie den Treppenabsatz überqueren müssen. Dabei hätte der auf jener Seite hochkommende Arbeiter sie aber auf jeden Fall sehen müssen. In der großen Wohnung hingegen, war der Flur so lang, dass sie vom Arbeiter gesehen worden wären, wenn sie nach hinten zum Wohnzimmer gelaufen wären. Sie mussten also vorn bleiben und sich dort verbergen. Ihre Hoffnung war, dass er sie dort nicht bemerken würde. Alle hielten den Atem an. Unaufhaltsam hörten sie den Arbeiter nach oben kommen.
Es waren nur wenige Sekunden, bis er das oberste Stockwerk erreichte. Aber er ging ohne zu zögern weiter, die Treppen zum Dachboden hinauf. Erleichtert atmeten sie auf. Muck wollte gerade das Zeichen geben, den Flur entlang, nach hinten zu laufen, um auf dem Balkon zu gelangen. Denn dort hin gingen die Handwerker ganz bestimmt nicht. Aber da hörten sie, wie der Arbeiter sich oben die umgefallene Leiter griff, um sich sofort wieder auf dem Weg nach unten zu begeben. Sie blieben wo sie waren. Ihre größte Befürchtung wurde bestätigt. Aber zunächst tönte es vom Dachboden noch recht harmlos:
„Du Ernst, hier haben sich diese Lümmel von vorhin doch tatsächlich ein Lager eingerichtet. Wahrscheinlich wollen sie hier saufen und rauchen. Wenn ich die erwische!“
Es blieb offen, was er dann mit ihnen machen würde. Im nächsten Augenblick schallte es von unten zurück und ließ die Jungs erneut das Blut in den Adern gefrieren:
„Lass das jetzt! Geh in die Wohnung und mache deine Arbeit“
„Ist ja schon gut Ernst. Auf welcher Seite soll ich anfangen? In der großen Wohnung?“
„Ja Heinz, gehe erst in die Küche der großen Wohnung.“
Im Versteck blieb den Eindringlingen fast das Herz stehen. Sie waren verloren. Sobald er die Wohnung betrat, würde er sie entdecken. Dietrich bemerkte plötzlich eine schnelle Bewegung neben sich. Max stieß sich gerade von der Wand ab. Er war käseweiß im Gesicht. Offensichtlich wollte er fortlaufen. Fast sofort griff die Hand von Muck an Dietrich vorbei und drückte seinen Bruder wieder zurück an die Wand. Er muss mit einer solchen Reaktion gerechnet haben, so schnell, wie seine Reaktion kam. Mit verzweifelten Augen blickte Max zu den großen Jungen hinauf. Dieser schüttelte energisch den Kopf und bot ihn, mit einem strengen Blick, Ruhe zu halten. Max lehnte sich zurück und petzte seine Augen zu.
Der Handwerker bestätigte seinen Auftrag mit einem zustimmenden Ruf und kam die Treppe herunter. Dabei schepperte seine Holzleiter. Im nächsten Augenblick sahen sie ihn in der Wohnung auftauchen. Er ging keine drei Meter an ihnen vorbei. Es war ein großer, kräftiger Mann in einer grauen Bauarbeiterkleidung. Doch die Jungs hatten Glück. Er trug die Leiter auf seiner rechten Seite. Dadurch war sein Kopf leicht nach links gewandt. So konnte er auf seiner rechten Seite nur schwerlich etwas wahrnehmen. Sie hörten seine Schritte in die Küche abbiegen. Dort stellte er mit lautem klappern seine Leiter auf und stieg die knarzenden Strossen empor. Sofort nahm er seine unbekannte Arbeit auf, bei der er verschiedene Werkzeuge zu gebrauchen schien.
Das war der Augenblick in dem Muck das Zeichen zum Aufbruch gab. Zunächst ging Ali in das Treppenhaus und peilte die Lage. Alles war ruhig. Er kann wortlos zurück und winkte seine Kameraden, zu kommen. Sie hasteten schnell und lautlos über den Treppenabsatz in die gegenüberliegende Wohnung. Dort rannten sie den kurzen Gang nach hinten in das Wohnzimmer. Es war kleiner, als jenes in der großen Wohnung, hatte aber eine ebenso große Fensterfront mit Tür zum Balkon. Auf diese strebten sie sofort. Muck ging noch in der Wohnung in die Hocke runter und bewegte sich an der niedrigen Wand unter dem große Wohnzimmerfenster entlang. In der Ecke, wo die Mauer wieder geschlossen war lehnte er sich an. Ali nahm neben ihm den Platz ein. Er musste sich aber in eine liegende Haltung begeben, wobei er sich mit dem Rücken an seinem Bruder anlehnte. Max und Dietrich fanden bequem unter dem Fenster Platz, ohne dass sie vom Raum aus sofort gesehen werden konnten. Vorläufig fühlten sie sich in Sicherheit.
Gespannt lauschten sie in das Haus hinein. So konnten sie hören, dass Heinz seine Arbeit in der anderen Wohnung beendet hatte. Schon schien die Gefahr vorbei zu sein. Doch dann erhielt er von unten den Auftrag auch in der mittleren und in der kleinen Wohnung Tätigkeiten zu vollziehen. Ali wurde nun unruhig:
„Was wollen wir machen? Wenn er in diese Wohnung kommt und in der Küche die Leiter hinaufsteigt, kann er uns unter Umständen entdecken. Er hat von der Küche einen freien Blick zum Balkon. Wenn er gar ins Wohnzimmer geht wird er uns bestimmt entdecken. Ich würde einen Stock nach unten gehen. Auf dem Balkon der großen Wohnung. Dort sind wir sicherer.“
„Wir würden es gar nicht nach unten schaffen! Bedenke, aus der Küche der mittleren Wohnung kannst du direkt in das Treppenhaus blicken!“,
erwiderte Muck skeptisch.
„Ja aber man kann nur die hinaufführende Treppe richtig sehen. Wenn wir uns eng an die Wand drücken, kann er uns nicht wahrnehmen. Wir sollten nach unten gehen!“
Muck dachte einen Moment nach:
„Du hast recht! Es ist besser, wenn wir nach unten in die große Wohnung gehen! Schnell wir müssen uns beeilen!“
Das war eine gute Meldung für Max und Dietrich. Die Aussicht, hier auf dem Balkon entdeckt werden zu können, hatte sie wieder sehr unruhig werden lassen. Jetzt gab es eine Chance der Gefahr zu entgehen. Schnell sprangen sie auf. Aber Muck zischte ihnen sofort zu:
„Geht sofort wieder runter! Wollt ihr von Erik und Ole entdeckt werden? Zunächst wird Ali die Lage peilen. Dann erst gehen wir los.“
Ali machte sich auf allen Vieren auf dem Weg, um in das Wohnzimmer zu gelangen. In dem Moment konnten sie hören, wie der Handwerker die knarzende Leiter wieder hinunterstieg. Er war offensichtlich mit seiner Arbeit in der mittleren Wohnung schnell fertig geworden.
„Ali, schnell zurück! Und ihr beiden legt euch flach hin! Sofort!“,
tönte sofort Mucks befehlende Stimme auf. Alle kamen seinem Kommando nach. Wenige Augenblicke klappte die Leiter zusammen und wurden in ihre Wohnung getragen. Sie hörten den Arbeiter die Küche betreten. Wie schon gewohnt ging er seiner Arbeit nach. Aber bald war er fertig und stieg die Leiter herunter. Er wollte die Wohnung schon verlassen, da kam ihn ein neuer Gedanke:
„Ich werde mal nachschauen, ob die Lümmel noch hinter dem Haus herumlungern!“,
rief er nach unten. An Hand der klappernden Leiter konnten die Jungs auf dem Balkon erkennen, dass Heinz das Wohnzimmer betrat und in Richtung des Balkons ging. Die Jungs auf dem Balkon lagen einen Augenblick wie erstarrt. Dann begann Muck langsam seine Gelenke an Arme, Beine und Hände zu lockern. Ali tat es ihm gleich.
Heinz stellte nun die Leiter im Wohnzimmer an die Wand. Nun war er bereit den Balkon zu betreten. Die Herzen von Dietrich und Max rasten vor Angst, während Ali und Muck sich vorsichtig so aufrichteten, dass sie sofort handlungsfähig waren. Heinz ahnte von allem den nichts. Er erreichte gerade die Tür. Glücklicherweise war sein Blick in diesem Augenblick auf das Gebirge gerichtet. Aber noch ein Schritt und die Vier waren entdeckt.
Aber dann kam die Erlösung:
„Wo bleibst du, Heinz? Ich brauch dich dringend hier unten. Beeile dich!“
Heinz drehte sich sofort um:
„Ich komme ja schon! Ich bringe nur schnell die Leiter weg!“
Schon hörte man wieder das Klappern der Holzleiter. Sie wurde nach oben getragen. Anschließend begutachtete er jedoch offensichtlich nochmals das Lager von Ali und Muck.
„He Ernst, willst du dir das nicht doch einmal anschauen? Die haben hier ein richtiges Lager aufgebaut.“
„Ich habe dir doch gesagt, wir haben keine Zeit uns darum zu kümmern. Wir müssen heute noch fertig werden. Die Lümmel sind nicht im Haus. Also lass das Lager sein und komm schnell runter. Ich gehe schon mal nach draußen.“
„Ist ja gut. Ich komme schon. Aber geraucht haben die hier nicht. Ich kann keine Stummeln entdecken.“
Meldete er nach unten, während er langsam die Treppen hinunterstieg. Bald war alles wieder ruhig Die Vier setzten sich bequemer auf dem Balkon. Immer darauf achtend, dass Erik und Ole, die immer noch draußen saßen sie nicht sehen und hören konnten.
Muck atmete auf und sprach leise:
„Meine Herren, das war knapp. Der hätte nur auf dem Balkon kommen müssen. Dann hätte er uns mit Sicherheit entdeckt. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er es nicht getan hat.“
„Wenn das so gefährlich ist, wie könnt ihr euch dann hier im Hause so herumtreiben? Die Arbeiter könnten euch doch jederzeit erwischen! Habt ihr denn keine Angst?“
Ali antwortete:
„Wir haben keine Angst! Wir wären mit dem Arbeiter schon fertig geworden. Das Problem seid ihr eben gewesen. Denn wenn wir uns gewehrt hätten, dann hätten wir euch hier zurücklassen müssen und der Arbeiter hätte seine Wut an euch ausgelassen.“
Ärgerlich fuhr Muck dazwischen:
„Lass das dumme Geschwätz. Mache den Jungs keine Angst. Wir hätten euch nicht im Stich gelassen. Aber ein Handicap seid ihr dennoch. Doch wir müssen jetzt weiterkommen. Max, du hast doch vorhin gesagt, du wüsstest wo die Statue sei. Wie kommst du zu dieser Annahme?“
„Aber der Freddy hat es doch gesagt. Dietrich, dir hat er es doch gesagt.“
„Was hat er mir gesagt? Ich weiß von nichts!“
„Aber du hast es mir doch vor unserem Haus erzählt, wie die Steinbrechers durch das Fenster gestiegen sind und der Freddy es gesehen hat.“
Jetzt mischte sich Muck wieder ein:
„Langsam, langsam, was hat Freddy gesehen? Was hat er euch erzählt?“
„Er hat mir erzählt, dass er die Polizei kommen sah, die zu Steinbrechers gegangen war und dann hat er gesehen, wie Erik und noch ein anderer zum Fenster hinausgeklettert sind. Und die sind dann in den Bergen verschwunden. Das war alles!“
„Nein, das war nicht alles. Du hast mir erzählt, dass die noch etwas zu Fenster hinaus gereicht haben. Irgendein Bündel.
„Ja stimmt, das hat er gesagt. Etwas, eingewickelt in einer bunten Decke.“
„Na siehst du! Diese Decke habe ich gesehen, als wir uns unten die Zimmer angeschaut haben. In unserem Kinderzimmer.“
Ali lachte auf:
„Da bist du kleiner Detektiv aber leider auf den Holzweg. Diese Decke haben wir auch schon gefunden. Wir haben sie untersucht. Sie war leer. Leider ist es nichts, mit deinem Versteck.“
Die Enttäuschung stand dem kleinen Bruder ins Gesicht geschrieben. Aber Muck schüttelte nachdenklich den Kopf:
„So Unrecht hat Max nicht! Als wir die Decke untersuchten, hatten wir keine Ahnung, dass sie im Zusammenhang mit dieser Geschichte stehen könnte. Daher haben wir sie nicht sonderlich beachtet. Jetzt sieht die Sache anders aus. Wir müssen runter ins Parterre. Ali schau doch einmal nach, ob die Luft rein ist.“
Ali kam dem Wunsch seines Bruders sofort nach. Dietrich war verunsichert:
„Wenn die Decke doch leer war, nutzt sie uns doch überhaupt nichts. Das Versteck kann doch trotzdem überall sein.“
Muck schüttelte den Kopf:
„Nein! Wenn die Figur wirklich in der Kolter eingewickelt war und die beide diese versteckt haben, warum sollen sie die Decke dann wo anders hinschleppen?“
„Um die Spur zu verwischen?“,
versuchte er zu begründen.
„Unsinn, sie wollen die Figur wieder abholen. Dazu brauchen sie die Decke wieder. Also könnten sie die Decke immer hin und her tragen, was vielleicht auffallen würde, oder sie lassen sie dort, wo ihre Beute versteckt ist. Dann könnten sie, wenn sie Angst hätten, die Decke würde sie verraten, diese auch verbergen. Wenn die Decke aber so offen daliegt, hatten sie keine Angst vor dieser Entdeckung gehabt. Dann ist es aber sicher, dass sie die Decke dort haben liegen lassen, wo sie sie brauchen werden. Nämlich in der Nähe des Versteckes. Dort, wo die Decke ist, müssen wir suchen. Das ist sicher!“
In der Zwischenzeit war Ali zurück:
„Die Handwerker sind draußen vor dem Haus. Wie es aussieht, werden sie dort auch eine Weile bleiben. Wir können nach unten gehen.“
Dietrich sprang auf und wollte sofort los gehen. Aber Muck hielt ihn noch zurück:
„Dort unten ist es sehr gefährlich! Sowohl die Handwerker, als auch die Steinbrechers können plötzlich ins Haus gelangen. Wir können uns wehren. Aber euch wird man vielleicht erwischen. Verhaltet euch also absolut ruhig. Wenn irgendetwas ist, versucht in diese Wohnung unten im Erdgeschoss zu gelangen. Ihr müsst dort auf dem Balkon gehen. Dort habt ihr eine Chance zu entwischen. Ist das klar?“
Max und Dietrich nickten ihm verängstigt zu. Ihnen war schon längst klar geworden, dass dies alles kein Sonntagsspaziergang war. Muck ging wieder vor und Ali bildete die Nachhut. Sie schlichen auf die gleiche Weise nach unten, wie Max und Dietrich heraufgeschlichen waren. Max hielt sich die ganze Zeit an Dietrich fest. Doch bald standen sie unbeschadet vor der Erdgeschosswohnung.
Angespannt gingen sie hinein und steuerten sofort das erste Zimmer auf der linken Seite an. Es war ein recht großer, leerer Raum. Bis auf eben jener bunten Decke die in der Ecke der rechten Wand lag. Max hatte es wieder eilig. Er drängte sich sofort an allen vorbei und stürzte sich auf die Decke. Aber sie verbarg tatsächlich nichts. Ratlos standen sie im Raum und schauten umher. Hier schien es kein Versteck zu geben.
„Wir müssen die Räume ringsum absuchen. Das Ding muss hier in der Nähe sein!“, schlug Muck vor. Eifrig gingen sie ans Werk. Jeder von ihnen übernahm einen der Umliegenden Räume. Nur Max hielt sich ständig in der Nähe von Dietrich auf. Er durchsuchte die Küche. Aber diese war genauso leer wie alle übrigen Räume. Sie fanden sich wieder im ursprünglichen Raum ein.
„Das gibt es doch nicht. Das Versteck muss hier irgendwo sein!“,
schimpfte Ali vor sich hin. Wütend trat er die Kolter durch den Raum.
„Bleib ruhig!“,
forderte ihn sein älterer Bruder auf.
„Mache mir mal die Baumleiter. Ich schaue mal gründlicher in den Rollladenkasten hinein. Vielleicht gibt es ja doch eine Nische, die man von unten nicht einsehen kann.“
„Ich hoffe, du bist nicht in Hundekacke getreten.“
„Schwätze nicht, tue es!“
Ali stellte sich mit dem Rücken in die Fensterecke, die man vom Gebirge nicht einsehen konnte. Dann verschränkte er fest seine Finger. Muck fasste ihn bei den Schultern, stellte seinen linken Fuß in Alis’ Hände und zog sich mit Schwung nach oben. Dort hielt er sich an der Mauerwerkkante fest. Nun hatte er den Einblick in die Maueröffnung, in der einst einmal der Rollladen eingebaut werden sollte. So sehr er auch schaute, der Kasten war leer. Enttäuscht sprang er rückwärts von den helfenden Händen.
„Nichts. Da oben ist absolute Leere. Und es ist keine verborgene Nische vorhanden. Wir können es uns also sparen, in den anderen Räumen auch nachzusehen. Verdammt!“
„Wir können hier noch jahrelang suche. Wir werden das Versteck nie finden. Die Decke ist eine falsche Spur. Wer weiß, wo die hergekommen ist!“,
tobte Ali.
„Nein, nein, die Decke ist ein wichtiger Hinweis. Wo würden wir denn hier etwas verstecken?“
Max wurde wieder naseweis:
„Na im Schornstein natürlich! Wo denn sonst! Schaut einmal hier, was ist denn das?“
Wie auf ein Kommando fuhren sie alle herum und starrten auf dem kleinen Müllerbub. Dieser wiederum starrte auf eine Stelle an der Wand. Nein, es war nicht die Wand, er starrte auf den Schornstein, der rechts neben der Zimmertür erstellt worden war. Sie ließen ihre Blicke dem Seinen folgen. Es dauerte einen kleinen Augenblick, bis sie erkannten, was Max so irritierte:
Der Schornstein hatte ein Loch, in dem das Ofenrohr eingesetzt werden sollte. Dieses wurde vorerst von einer blechernen Blende verschlossen. An diesen Schornstein schien diese Blende jedoch etwas schief eingesetzt zu sein. Und dann erkannten sie auch den dünnen Holzstab, der rechts oben hinter der Blende minimal herausragte. Sie hatten gefunden, was wir suchten.
Der Plan
Muck faste sich am schnellsten und schritt sofort zum Schornstein. Vorsichtig tastete er die runde Blende ab. Er zog ein wenig an dem festsitzenden Blech. Es ließ sich nur schwer bewegen. Aber der Holzstab veränderte sofort seine Lage. Muck hatte augenblicklich die Befürchtung, dass der Stab durch das Abnehmen der Blende abrutschen und in das Loch hineingezogen werden könnte. Dann fiel alles dem Schornstein hinunter.
„Ali du musst mir helfen. Dietrich gehe bitte zur Zimmertür und passe auf, dass niemand kommt.“
„Warum denn ich?“,
maulte dieser sofort los. Auch er wollte viel lieber zuschauen, wie das Versteckte geborgen wird.
„Wer soll es denn sonst machen? Ali und ich müssen das Ding hier rausholen und Max ist noch zu jung zum Wache schieben. Nein, es bleibt an dir hängen! Geh auf deinen Posten!“,
wies Muck ihn zurecht. Max holte schon tief Luft. Es war deutlich zu erkennen, dass er protestieren wollte. Denn er fühlte sich durchaus nicht zu klein, um aufpassen zu können. Aber Ali kam ihm zuvor und setzte dem Gesagten noch etwas hinzu:
„Und denke daran, wenn jemand kommt, können wir abhauen. Ihr beide sitzt dann in der Falle. Also sei recht wachsam!“
Es war nichts zu machen. Die älteren Jungs hatten natürlich recht. Widerwillig schlenderte er zur Zimmertür und lauschte in das Haus hinein. Währenddessen fingen Ali und Muck an, die Blende zum Ofenrohrloch zu entfernen. Doch erst mit Hilfe eines Taschenmessers gelang dieses Unterfangen. Muck zog die Blende langsam heraus, gleichzeitig hielt Ali den Holzstab fest.
„Da hängt etwas ganz schön Schweres dran“, kommentierte er die Arbeit. Muck hatte die Blende abgelegt und begann nun langsam den recht dünnen Hanfstrick heraus zu ziehen. Schon nach etwa zwanzig Zentimetern konnte er die gesuchte Figur auftauchen sehen. Ali hielt nun den Strick straff, während Muck mit beiden Händen in das Loch hinein Griff. Es war sehr eng. Er merkte schnell, dass er nur mit einer Hand durch das Loch arbeiten konnte. Behutsam griff er mit der rechten Hand zu. Die Figur hing kopfüber, das Seil war zwischen den Beinen eines der Ringer hindurch gezogen. Muck musste die Statue kippen, da sie sich sonst im Loch verkantet hätte. Immer wieder gaben sich die beiden Brüder kurze Kommandos. Dann war sie geborgen.
Dietrich bemerkte nun, dass er dem Treiben die ganze Zeit gespannt zugeschaut hatte. Seine Wache hatte er total vergessen. Er erschrak und lauschte schnell in das Haus hinein. Aber es war alles ruhig. Nun konnte er sich wieder entspannen und versuchen seine ihm auferlegte Pflicht gewissenhaft nachzukommen. Ein Auge hielt er immer auf den geborgenen Schatz gerichtet. Max stand hinter den beiden großen Jungs und konnte eigentlich überhaupt nichts sehen. Erst als diese sich umdrehten und die Figur auf dem Betonboden ablegten, sah er zum ersten Mal den gestohlenen Schatz.
Es war eine silberne Figur, die zwei ringend ineinander verschlungene Athleten darstellte, welche mit ausgestellten Beinen auf einen flachen Sockel standen. Auf jenem Sockel stand etwas geschrieben, was auf den großen Sieg von Herrn Schmitz hinwies.
Nun setzten sich alle Vier um die Statue herum und betrachteten sie interessiert.
„Was machen wir jetzt damit?“,
unterbrach Ali das andächtige Schweigen.
„Wir müssen sie zurück hängen.“,
sagte Muck bestimmt.
„Bist du verrückt!“,
widersprach sofort sein jüngerer Bruder,
„Willst du sie den Steinbrecher überlassen?“
„Pass auf, Ali. Wir können die Statue hier nicht raustragen. Wir würden sofort von Eriks ganzer Clique gejagt werden. Außerdem ist es besser, wenn diese Brüder ihre Beute hier abholen kommen. Nur dann kann man ihnen nachweisen, dass sie auch die Diebe sind. Darum müssen wir jetzt hier raus, um den Gaunern einen heißen Empfang vorbereiten zu können. Dazu brauchen wir einen guten Plan.“
„Was wird aus den Kleinen?“
„Ja, die müssen wir auch hier herausbekommen. Dazu werden wir Erik und Ole ablenken müssen.“
„Wie wollen wir das machen?“,
fragte Ali nach.
Muck erklärte den Müllerkinder seinen Plan. Demnach sollten sie zur Haustür, an den Arbeitern vorbei hinauskommen.
„Das ist ungefährlicher für euch. Denn die Arbeiter sind sicherlich raue Kerle, werden kleinen Kindern aber nicht viel antun.“,
versicherte Muck. Dann sah er Max an. Er war ganz still und sein Gesicht war bleich:
„Du hast Angst. Das brauchst du nicht. Ihr beide werdet es schon schaffen!“
Da strafte sich Max etwas:
„Ich habe keine Angst. Ich bin doch ein Indianer!“
Aber das kam so kläglich heraus, dass er die Anderen mit seinen Worten nicht überzeugen konnte. Muck munterte ihn etwas auf:
„Wenn du nachher wieder daheim bist, wirst du ein guter Indianer sein! Das verspreche ich dir.“
Ali konnte sich den Scherz nicht verkneifen:
„Nur ein toter Indianer, ist ein guter Indianer!“
Max schrie erschrocken auf. Muck fuhr wütend seinen Bruder an:
„Du Depp! Musste das nun sein? Wenn du nichts Gescheites zu sagen hast, halte gefälligst dein Maul!“
Ali tat seine Bemerkung bereits leid. Besonders, weil er sah wie Max wieder erblasste:
„Tut mir leid, Max. Das war ein Spruch aus einem Film, den ich vor ein paar Tagen gesehen habe. Den fand ich einfach nur lustig. Er ist mir eben nur herausgerutscht. Natürlich wollen wir, dass ihr gesund heimkommt.“
Max beruhigte sich etwas. Muck auch. Dann erklärte er seinen Plan weiter. Er wollte zusammen mit Ali zum Balkon in der kleinen Wohnung im Erdgeschoss hinaus gehen. Sie hatten auf diesem eine dicke, breite Holzbohle liegen. Nur mit deren Hilfe konnte man über den zu breiten Graben schreiten.
„Die Steinbrecher werden euch sofort angreifen!“,
warf Dietrich ein.
„Das glaube ich nicht. Sie werden mich zunächst für einen Bauarbeiter halten. Das wird sie vielleicht erst einmal in eine Deckung treiben. So kann ich die Bohle auslegen und hinüber gehen. Selbst wenn sie mich dann erkennen und auf mich zustürmten würden, könnte ich den Weg für Ali solange sichern, bis er über das Brett gelangt ist. Spätestens wenn er rüber geht, werden sie wissen, mit wem sie es zu tun haben. Das ist auch gut so. Sie sollen ja vom Berg herunterkommen. Denn von dort, wo sie die ganze Zeit sitzen, könnten sie euch fliehen sehen. So wird für euch der Weg von dieser Seite auch frei.“
„Aber sie werden euch verprügeln.“,
sprach Max ängstlich aus was er dachte.
„Das können sie nicht! Wir sind stärker als sie!“,
antwortete Ali. Aber auch er hatte noch bedenken:
„Die Steinbrechers werden, sobald wir weg sind, über das Brett in das Haus laufen.“
„Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Wir müssen ihnen vormachen, dass wir vor Bauarbeitern geflohen seien, die im ganzen Haus rum machen. Das wird sie eine Weile draußen halten.“
„Was macht ihr dann?“,
wollte Dietrich wissen.
„Wir bereiten ihnen eine wunderschöne Überraschung vor.“,
entgegnete Muck verschmitzt. Dann wurde er wieder ernst:
„Aber wir müssen jetzt noch einmal nach oben gehen. Ich will euch etwas zeigen.“
Nachdem die beiden großen Jungs die Figur wieder in ihr Versteck getan hatten, gingen Dietrich und Max zusammen mit Muck hoch in den zweiten Stock. Ali sollte am Versteck Wache halten. Oben angekommen betraten sie erneut die kleine Wohnung und gingen sofort in das dort vorgesehene Bad.
„Dieser Raum hat nur ein kleines Fenster und ist in einer Nische etwas zurück gelegen. Dort können uns die Arbeiter nicht so schnell sehen.“,
erklärte der große Freund den beiden Kleinen. Am Fenster stehend zeigte er auf eine Stelle des Gebirges, etwa in der Mitte zwischen den beiden Häuserblocks:
„Seht ihr, dort ist ein flacher Anstieg in das Gebirge. Dort müsst ihr hinrennen, wenn ihr hier raus seid. Merkt euch die Stelle genau. Ihr werdet keine Zeit zum Suchen haben, sobald ihr das Haus verlassen habt.“
Dietrich schaute zu der gezeigten Stelle hinüber. Ein großer rotblühender Strauch Heckenrosen markierte gut sichtbar den Einstieg in die Hügel. Dieser Strauch war sicher auch von unter gut zu sehen. Zugleich zog ein dumpfes Gefühl durch seinen Bauch. Ihm war alles nicht so recht geheuer und Angst stieg in ihm auf. Lieber würde er mit den beiden Großen das Haus verlassen. Aber Muck lehnte diesen Wunsch mit dem Hinweis ab, dass die beiden Steinbrecherbrüder sie auf keinen Fall mit dem Haus in Verbindung bringen können sollten. Dietrich musste sich dieser Entscheidung fügen. Er schaute noch einmal zum Fenster hinaus. Dann glaubte er genug gesehen zu haben und wendete sich an Muck:
„Wann sollen wir denn raus gehen?“
„Sobald wir auf den Balkon getreten sind, werden die Steinbrechers nur noch uns beobachten. Das ist eure Zeit. Haltet euch nicht allzu lange mit eurer Flucht auf. Und lauft dann gleich nach Hause.“
Sie stiegen wieder nach unten ins Erdgeschoss und betraten dort ebenfalls die kleine Wohnung. Ali hatte sie kommen hören und stieß wieder zu ihnen. Muck hielt sich erst gar nicht mit einem langen Abschied auf:
„Also macht es gut!“,
gab Muck ihnen noch einmal mit auf den Weg. Er schlug ihnen noch einmal beruhigend auf die Schultern. Dann trat er auf den Balkon hinaus und griff ohne Zögern nach dem bereitliegenden Brett. Wie selbstverständlich legte er es vom Balkon über den Graben aus. Die fiesen Brüder auf dem Berghang wurden sofort auf ihn aufmerksam. Unsicher beäugten sie den Mann, den sie zunächst tatsächlich für einen Bauarbeiter hielten. Dennoch war da irgendetwas, was nicht zu stimmen schien. Dann rief Ole plötzlich:
„Das ist einer der Bauer-Brüder! Was mach der den hier?“
Sofort sprang er auf und lief den Hang hinunter. Erik folgte ihm. In der Zwischenzeit nahm auch Ali einen kurzen Abschied von den beiden kleinen Brüdern:
„Macht, dass ihr abkommt. Viel Glück!“,
schickte Ali sie nun auch fort und ging zum Fenster, aber so, dass er von draußen nicht gesehen werden konnte. Er beachtete sie nicht mehr. Muck tastete sich einen ersten Schritt nach vorne.
„Komm Max, wir versuchen unser Glück.“
Endlich frei
Beklommen schlichen sie aus der Wohnung, die sieben Stufen hinunter zur Haustür. Nun waren sie wieder auf sich alleine gestellt. Dietrich trat vorsichtig in die rechte Ecke an der Tür und schaute durch das Gitter hinaus. Die Bauarbeiter taten noch immer ihr Werk vor dem Haus. Max trat hinter ihm. Auch er sah durch das Gitter:
„Verdammt!“,
mehr sagte er nicht. Und dennoch sagte dieses eine Wort alles.
„Es nutzt nicht, wir müssen es machen! Aber wir suchen uns erst noch die Stelle, wo wir hinlaufen müssen.“
Schnell wischten sie auf die andere Seite der Tür hinüber, von der aus sie einen freien Blick zum Gebirge hatten.
„Siehst du das Gebüsch mit den roten Hagebutten? Da musst du hinlaufen und rechts vorbei nach oben steigen.“
Max trat an die Tür und starrte zu jener Stelle hinüber.
„Ja, ich glaube ich weiß, wo ich hin muss.“
„Du wirst als erster laufen. Ich komme dann sofort nach dir raus. Schaue nicht zurück! Laufe auf jeden Fall weiter! Im schlimmsten Fall musst du Mutti Bescheid sagen, was los war. Hast du verstanden?“
Max sah gar nicht gut aus. Er hatte Angst, das sah man. Aber Dietrich ging es nicht viel besser. Dennoch gelang es ihm ein paar aufmunternde Worte an Max zu richten:
„Jetzt mache dir nicht in die Hose. Denke daran, du bist ein Indianer!“
Sie wechselten wieder zurück in die andere Ecke. Dort war die Stelle, an der der Holzrahmen des Gitters zerbrochen war. Noch einmal schaute Dietrich hinüber, zu den Handwerkern. Sie hatten unglaubliches Glück. Die Arbeiter waren gerade dabei den Kellerabgang hinunterzugehen.
„Max, du musst sofort los! Schnell! Sie sind gerade nach unten gegangen!“
Dietrich drückte das zerbrochene Holzdreieck nach außen, so dass sein kleiner Bruder hindurch schlüpfen könnte. Einen kurzen Augenblick zögerte er, dann kroch er durch die entstandene Öffnung hindurch. Draußen angekommen, begann er sofort zu rennen. Er hatte den Richtigen Kurs drauf. Aber ebenso schnell wurde er entdeckt. Wütend schrien die Arbeiter auf. Sie machten sofort kehrt und gingen den Abgang hinauf. Eine so schnelle Reaktion hatte der größere Müller-Sohn befürchtet.
Er hatte keine Zeit mehr. Auch er musste schnellsten raus. Auf allen vieren kroch er durch die Lücke und machte sich auf den Weg ins Gebirge. Dietrich bekam noch eine kleine Portion Glück zusätzlich zu geschanzt: Der Abgang zum Keller war nach der ihm abgewandten Seite ausgerichtet. So mussten die Arbeiter zunächst in die entgegengesetzte Richtung laufen. Das taten sie auch sobald sie Max aus dem Haus laufen sahen. Noch bevor sie den Richtigen Kurs eingeschlagen hatten, hatte Max den Hagebuttenstrauch erreicht und war schnell im Gebirge verschwunden.
Als sie aber dann auch noch Dietrich aus dem Haus kommen sahen, wurde ihr Geschrei erst richtig wütend, aber sie hatten nun eine etwas größere Entfernung zu überwinden. Während Ernst schimpfend stehen blieb, packte Heinz ein übergroßer Ehrgeiz. Er wollte diesen frechen Lümmel unbedingt bekommen. Vehement stürmte er los und war bald auf den richtigen Kurs.
Er versuchte ihm den Weg abzuschneiden. Aber er kam einen Augenblick zu spät. Doch er war ihm dicht auf den Fersen. Dietrich lief was er konnte. Jedoch konnte er die Richtung zum rettenden Strauch nicht einschlagen. Der Arbeiter drängte ihn vielmehr in Richtung des Hauses zurück. Dietrich war verzweifelt. Das durfte er auf keinen Fall zulassen.
Kurzentschlossen versuchte er über die steile Bergflanke zu entkommen. Mit allen Vieren arbeitete er sich nach oben. Doch schon nach drei Schritten bemerkte er seinen schweren Fehler. Zum einen war er nun noch langsamer als sein Gegner und zum anderen geriet nun seine Körpermitte in eine komfortable Zugreifzone für den Verfolger. Zu Glück brauchte dieser noch zwei Schritte um ihn zu erreichen. Dietrich ließ sich einfach fallen und rollte den Berg hinab. Direkt auf seinen Jäger zu.
Dieser war viel zu überrascht um richtig reagieren zu können. Instinktiv stieg er über das auf ihn zukommende, wild rollende Bündel hinüber. Dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel gegen den Hang. Schnell fing er sich mit seinen Händen ab und stieß sich sofort zurück in die Aufrechte. Nach kurzer Orientierung setzte er die Verfolgung fort. Dietrich hatte durch dieses Manöver einen kleinen Vorsprung gewonnen. Nun konnte er den richtigen Kurs einschlagen.
Und in seiner Phantasie schien er nicht mehr auf dieser Baustelle zu sein. Er sah sich vor seinem Haus. Es war auch kein Bauarbeiter, der, hinter ihm herjagend, ihn ans sprichwörtliche Leder wolle. Nein hinter ihm schien sein Freund Freddy zu sein. Dieser viel ältere, viel stärkere und auch viel schnellere Spielkamerad, mit dem er sich schon so oft ein solches Laufduell geliefert hatte. Er hatte auch gegen ihn nur wenige Chancen, gerademal seine Wendigkeit, seine Geschicklichkeit und seine Ausdauer. Aber das waren Waffen, mit denen er es immer wieder schaffte Freddy auf Abstand zu halten, bis dieser die Verfolgung lustlos aufgab.
Und so war es wie immer. Gegen die langen, schnellen Beine eines Erwachsenen hatte er nur die wenigen Begabungen zu setzen. Schon spürte er die Hand seines Verfolgers auf seinem Rücken. Er ließ sich einfach fallen und rollte zur Seite ab. Der Verfolger ließ sich auch dieses Mal wieder überraschen und lief drei, vier Schritte ins Leere. Schon war Dietrich wieder auf den Beinen und lief in die alte Richtung weiter. Der Jäger brauchte eine große Kurve, um wieder auf Kurs zu kommen. Das gab Dietrich wiederum eins, zwei wertvolle Sekunden. Der Hagebuttenstrauch war nicht mehr weit. Aber sein Häscher hatte bald schon wieder aufgeholt. Er war vielleicht noch zwei Schritte hinter ihm. Er wollte Dietrich auf jeden Fall fassen. Dieser konnte sicherlich auf Dauer seinem Verfolger nicht davonlaufen. Dietrich brauchte mehr als seine Geschicklichkeit. Er brauchte noch etwas Glück.
Der Jäger wusste sehr genau, wohin sein Opfer laufen wollte Daher hatte er ihm geschickt den Weg ins Gebirge verstellt, in dem er auf seiner rechten Seite lief. Dietrich musste nach links ausweichen, in die offene Fläche zwischen den Häusern hinein. Direkt vor ihm tauchten die Heckenrosen auf. Nun wollte der Häscher erneut zugreifen. Dietrich schlug dieses Mal einen schnellen Haken nach links. Damit hatte sein Verfolger nicht gerechnet.
Er spekulierte darauf, dass der kleine Junge sich wieder hinwerfen würde. Darum verlagerte er sein Gewicht etwas nach unten und war bereits in einer leicht gebückten Haltung gegangen. Gleichzeitig aber ging er spontan der Richtung des überraschend geschlagenen Hakens nach. Dadurch wurde seine Lage äußerst instabil. Was zur Folge hatte, dass er seitlich aus seiner Spur herausgetragen wurde. Dort aber stand der Strauch stachliger Heckenrosen im Weg. Dieser nahm den aus der Kurve fliegenden Verfolger mit Freuden auf. Der Jäger stieß einen wütenden Schmerzensschrei aus. Er war nun keine Gefahr mehr für Dietrich. Schnell rannte er den Berg hinauf. Heinz hatte alle Lust an der Verfolgung verloren. Sein Kollege Ernst stand am Haus und lachte lauthals. Wutschnaubend befreite sich der Gestürzte aus seiner misslichen Lage und trabte zum Haus zurück. Die Flucht der beiden Jungs war gelungen.
Im Gebirge suchte er nach Max. Er fand ihn hinter einen Busch gekauert.
„Puh, das war knapp. Der hätte dich beinahe gehabt, dreimal. Ich hatte ganz schön Angst!“
„Ich hatte auch ganz schön Angst. Aber jetzt sind wir hier draußen. Komm, wir gehen heim.“
„Ich will aber noch sehen, was Ali und Muck machen!“,
widersprach ihm sein kleiner Bruder. Dummerweise Interessierte Dietrich das genauso brennend. So gab er dem Drängen des Bruders nur allzu gerne nach und sie machten sich erneut auf den Weg zum unteren Rand der Siedlung. Auf gewohnter Weise umgingen sie den Morast und die Brennnesseln und kamen bald an die Stelle, die Erik und Ole als Weg hinunter zum Haus gewählt hatten. Sie blieben allerdings auf dem Kamm stehen und erblickten das Haus nun von der anderen Seite. Niemand war zu sehen. Eine Holzbohle lag in den Graben geworfen und alles war ruhig.
„Hier ist niemand mehr. Wir gehen heim.“,
schlug Dietrich nun seinen Bruder vor. So stiegen sie wieder in die Rinne hinab zu der Stelle, an der sie den Morast bequem überschreiten konnten um auf der anderen Seite jenen Weg zu finden, den sie vor einiger Zeit gelaufen waren, als sie zum ausgebrannten Auto hinunter gehen wollten. Sie hatten gerade die Stelle erreicht, an der sie vormals den Weg nach unten fanden, als plötzlich die beiden bösen Jungs vor ihnen standen. Erik sah noch sehr viel unfreundlicher aus, als bei ihrem ersten Treffen. Sofort stürzte er sich auf Dietrich:
„Da habe ich dich ja, du kleine Kröte!“
Mit diesen Worten packte er ihn an beiden Armen, sodass es ihm richtig weh tat. Er schrie auf. Das beflügelte ihn umso mehr. Er fing an ihn ordentlich zu schütteln, um ihn anschließend im Kreis herum zu schleudern, dass er letztlich auf dem Boden landete. Aber er hatte noch immer Wut im Bauch. Schnell kam er auf ihn zu, und trat nach ihm. Dietrich rollte sich etwas zur Seite und bekam so nicht die volle Wucht dieser Attacke zu spüren. Aber Erik gab nicht auf. Wieder setzte er ihm nach. Schnell legte sich Dietrich auf seinen Rücken und trat mit beiden Beinen zugleich nach seinem Angreifer. Er traf ihn am Schienbein. Dieser schrie wütend auf und wich behände aus, um einen zweiten Tritt zu entgehen. Dann griff er wieder an. Nochmal traf Dietrich ein Fußtritt an seinem Oberschenkel. Dieses Mal tat es ihm richtig weh.
Erneut rollte er sich weg von Erik. Dieser setzte sofort nach und bearbeitete den kleinen Jungen mit seinen Füssen. Es waren jedoch keine festen Tritte mehr. Vielmehr war es so, als wolle er ihn immer wieder schubsen. Dietrich bemühte sich, seinen Attacken auszuweichen, in dem er sich jedes Mal wieder, rückwärts mit Händen und Füssen von ihm wegbewegte. Plötzlich spürte er ein typisches Brennen an seinem Unterarm. Nun wurde ihm bewusst, wohin ihn Erik mit seinen Angriffen treiben wollte. Direkt in die Brennnesseln.
Ein weiteres Ausweichen von ihm, würde Erik sein Ziel erreichen lassen. Schon sah er ihn wieder auf sich zu stürmen. Sein höhnisches Grinsen verriet ihm alles. Mit dieser Attacke wollte er sein Tun vollenden. Was konnte er machen? Jetzt half kein Denken, sondern Handeln. Geschwind rollte er sich direkt auf Erik zu. Mit dieser Bewegung hatte er nicht gerechnet. Er konnte ihn nun erst einmal nicht attackieren, denn er stand auf dem falschen Bein. Mit einem Satz sprang er über sein Opfer hinweg und lachte es höhnisch aus. Blitzschnell drehte Dietrich sich nun auf ihn zu und richtete sich dabei ein wenig auf. Dann warf er sich mit all seiner Energie gegen die Oberschenkel seines Widersachers. Er wich nach hinten aus und kämpfte ein wenig mit seiner Balance. Dietrich wollte sich sofort wieder auf Erik stürzen, da kam wie aus dem Nichts plötzlich etwas Weißes auf seinem Gegner zugeflogen. Dietrich konnte nicht erkennen, was es war, und woher es kam. Es war nicht mehr als ein schneller Schatten, der da geflogen kam. Erik konnte nicht reagieren, wahrscheinlich sah er es gar nicht ankommen.
Dieses unbekannte Ding traf ihn jedoch voll an seiner Stirn. Ein Knall! Dann ein lauter Schmerzensschrei, der aus dem Mund des Halbstarken quoll. Orientierungslos und völlig erstarrt blieb er einen Augenblick lang stehen, so als wäre die Zeit für einen Moment lang eingefroren. Dann taumelte er weiter zurück. Drei, vier Schritte. Und ehe er sich versah saß er erneut auf seinen Hosenboden. Genau dort, wo er den kleinen Dietrich hatte hinhaben wollen.
Ole hatte die ganze Zeit zugeschaut. Nun lachte er laut auf. Auch dieses Mal ließ er seinen Bruder in der Patsche sitzen. Die beiden Jungs machten sich eilends davon. Der einzige Weg, der ihnen blieb war der zur Isetta runter. Den nahmen sie auch. Aber es gab hier nicht viele Verstecke, die sie schnell erreichen konnten. Und jeder andere Fluchtweg führte durch offenes Gelände.
„Schnell, in die Isetta“, raunte Dietrich einen Bruder Max leise zu.
Er öffnete auf gekonnter Art die Tür. Dann verkrochen sie sich unter die herabgefallenen Pappe, die auslangte, um sie vollständig zu verdecken. Die Tür schloss er so leise wie möglich. Nur wenige Augenblicke später hörten sie, wie der wild schimpfende Erik den Berg herunterkam.
„Wo sind diese Würmer. Die können noch nicht weit sein. Ich mache sie fertig!“
Ole beschwichtigte ihn fortwährend:
„Sei doch still, du Idiot! Du hast doch selbst Schuld. Lass die Kleinen einfach in Ruhe. Wir haben hier wichtigeres zu tun. Dein verdammter kleiner Privatkrieg bringt alles nur durcheinander. Wieso hast du diesen Blödsinn eigentlich machen müssen? Klaust einfach diese blöde Figur und die ganze Familie muss es ausbaden. Nun läuft alles nicht so ganz, wie ich es mir vorgestellt habe. Mir gefällt es auch nicht, dass die beiden Bauer-Brüder im Hause waren. Das sind Freunde vom Schmitz. Wenn das ein Zufall war! Wir müssen endlich dieses Zeug dort rausholen.“
„Du hast die Brüder doch laufen lassen. Ich hätte sie nur allzu gerne kräftig aufgemischt.“
„Erik, du bist einfach nur dumm. Die beiden hätten uns zu Mus gemacht. Die sind doch im gleichen Verein, wie der Schmitz. Aber sie haben uns auch unfreiwillig geholfen, da sie uns verraten hatten, dass noch mehr Handwerker durch das Haus strolchen. Wir wären voll in ihre Arme gelaufen. Aber bald ist Feierabend. Dann ist die Luft rein. Anschließend müssen wir schauen, wie du deine Scheiße wieder ausbügelst.“
„Lass mich in Ruhe! Ich werde das Ding holen. Pit will mir einen schönen Batzen Flocken dafür geben. Sonst muss ich überhaupt nichts ausbügeln. Die können mir doch gar nichts beweisen. Jetzt möchte ich einfach nur diese beiden Kröten erwischen! Wo sind sie denn hin?“
„Vielleicht haben sie sich ja in deinem Autowrack versteck!“,
spottete Ole.
„Den Kröten ist alles zuzutrauen.“
Den beiden kleinen Müllers wurde es ganz heiß unter ihrer Abdeckung. Sie hörten, wie sich jemand auf das Auto zubewegte, um das halbe Auto herumlief und an der Tür stehen blieb. Klackend Geräusche verrieten ihnen, dass dieser jemand versuchte die Tür zu öffnen.
„Da ist niemand drinnen, das sehe ich ja. Und die Tür geht auch nicht auf! Wahrscheinlich hat sie der Schmitz verriegelt. Hier können sie nicht sein!“, hörten sie Erik rufen, „Die müssen wo anders sein.“
Dann erfolgte ein lauter Schlag gegen das Auto. Erik muss mit voller Wucht dran getreten haben, denn es erfolgte umgehend auch ein lauter Schmerzensschrei von ihm.
„Du bist und bleibst ein Idiot, Erik. Die beiden sind doch sicher schon längst daheim. Aber mach was du willst. Ich gehe jetzt zum Haus zurück und warte, bis die Arbeiter weg sind! Und dann sehe ich weiter! Du kannst ja nachkommen, wenn du hier fertig bist. Dann führst du mich zu deinem Versteck und wir beenden die ganze Sache.“
„Ach verdammt nochmal, ich komme mit. Irgendwann erwische ich die beiden Kerle schon.“
Der Indianer
Angestrengt lauschend hielten es die beiden Verborgenen noch eine Weile in ihrem Versteck aus. Doch irgendwann waren sie sich sicher, dass die beiden gefährlichen Jungs weg waren. Vorsichtig öffnete Dietrich die Tür. Die Luft schien tatsächlich rein zu sein. Mühsam schälten sie sich aus dem Auto.
„Komm, wir gehen jetzt nach Hause.“
„Ich gehe aber nicht mehr durch das Gebirge. Ich glaube, die Steinbrechers lauern dort noch immer.“,
gab Max ängstlich von sich.
„Nein, wir werden hier durch den Häuserblock gehen. Hier wohnen nur ältere Kinder. Die tun uns nichts.“,
beruhigte Dietrich seinen Bruder.
Max war sofort einverstanden. Dietrich suchte nach einem Weg. Leider versperrten erneut dunkelgrüne Pflanzen den direkten Weg zwischen die Häuserblocks. Sie gingen bis an das Pflanzenfeld heran.
„Wir müssen etwas nach unten ausweichen, erst dort können wir zwischen die Häuser gehen.“
Sie machten sich sofort auf den Weg. Doch bevor sie zwischen den Häuserblocks verschwinden konnten, stürmte plötzlich mit lautem Gebrüll, Erik von vorne heran. Sie saßen fest. Zwischen ihnen und dem Häuserblock lag diese grüne Wand. Auf der anderen Seite war das Gebirge und hinter ihnen jenes Feld, das sie schon auf dem Hinweg nicht überwinden konnten. Erst in etwa fünf Meter hätten sie das neben ihnen liegend Hindernis umgehen können. Von dort jedoch stürmte der scheinbar zu allem entschlossene Unhold heran. Er war schon am sicheren Durchgang vorbei und kam mit schnellen Schritten auf die beiden wie zur Salzsäule erstarrten Jungs zugelaufen.
„Jetzt geht es uns dreckig“,
hauchte Dietrich seinem Bruder zu.
„Nein Dietrich, schau doch mal, die sind hier weiß. Wir können da durch. Schnell!“
Dietrich überlegte nicht lange. Auch er bemerkte plötzlich die weißen Kelche an der Pflanze. Schnell rannte er seinem kleinen Bruder nach, der schon vorausgeeilt war. Erik war bereits auf zwei Meter herangekommen. Laut schimpfend blieb er stehen. Kannte er nicht den Unterschied zwischen den Pflanzen? Nein, dort wo er stand, hatte die Pflanzen einfach keine weißen Kelche. Er machte kehrt und steuerte die Lücke an, durch die er den Müllerknaben nacheilen konnte. Das gab diesen wiederum einen großen Vorsprung. Aber bald war Erik wieder auf direkten Kurs. Schnell kann er den Davoneilenden näher. Und nun sahen sie es auch: In der Hand von Erik schwankte der Pickel.
Unvermittelt blieb Max stehen. Schnell klaubte er ein paar Lehmklumpen auf. Und mit sicherer Hand begann er damit, den anstürmenden Feind zu bewerfen. Schon der erste Wurf saß. Er traf Erik direkt an der Stirn. Max warf weiter. Lehmklumpen um Lehmklumpen flogen den nun stehen gebliebenen Gegner entgegen. Auch Dietrich war stehen geblieben. Gemeinsam bewarfen sie den aggressiven Feind. Er duckte sich immer wieder weg, um weitere Treffer zu entgehen. Selbst kam er nicht zum Werfen. Das war auch gut so, denn sie wussten ja wie gut er treffen konnte.
Da traf Max ihn erneut an seiner Stirn. Doch dieses Mal war wohl ein Stein im Lehmklumpen eingeschlossen. Es gab erneut einen sonderbar dumpfen Knall. Erik hielt in seiner Bewegung augenblicklich inne und griff sich an die getroffene Stelle. Von dort lief dem Gegner ein flinker roter Strom die Stirn hinunter. Erik wurde ganz bleich. Die beiden Müllers warfen unentwegt weiter. Immer mehr Treffer an seinen ganzen Körper musste Erik einstecken. Plötzlich drehte er sich etwas ab, schützte sich durch eine geduckte Haltung und trat erstmal den Rückzug an. Dietrich und Max warfen weiter und trafen immer wieder seinen Körper. Erneut heult er wütend auf. Wieder hatte ihn ein Stein getroffen. Jetzt gab er auf. Er drehte sich vollends um und machte sich aus dem Staub. Noch immer bewarfen ihn die kleinen Kerle, ohne weitere Treffer landen zu können. Erst als er jenseits der Brennnesseln war stellten sie ihr Feuer ein. Sie atmeten erleichtert auf und fielen sich jubelnd um den Hals.
„Der kommt nicht wieder!“,
sprach der kleine Bruder. Dann ging er zu dem Punkt, an dem sie Erik gestoppt hatte. Triumphierend hob er den Pickel auf, mit dem er vor kurzem noch so drangsaliert worden war. Wie eine Trophäe hielt er ihn über seinen Kopf.
„Jetzt können wir heimgehen!“
Sie mussten ein kleines Stück über verwildertes Land gehen. Dann erreichten sie den Weg, der die Häuser mit der Straße verband. Obwohl sie wussten, dass die hier wohnenden Kinder ihnen nichts tun würden, hatte sie dennoch ein mulmiges Gefühl im Bauch. Doch bald hatten sie die Straße erreicht. Niemand war ihnen begegnet. Die Straße war neutrales Land. Hier konnte ihnen nichts mehr passieren. Sie wohnten zwei Häuserblocks weiter oben. Schweigend schritten sie ihren Weg.
Als sie am nächsten Häuserblock vorbei waren, standen plötzlich Ali und Muck vor ihnen. Das war nicht weiter verwunderlich, denn sie wohnten ja hier. Dennoch hatten sie nicht mit ihnen gerechnet. Es gab ein großes Hallo. Dann setzten sie sich alle auf die Mülltonnenhäuschen. Muck schaute sie voller Hochachtung an:
„Ihr habt es dem Erik noch einmal ganz schön gegeben. Toll habt ihr das gemacht. Vor allem du, Max. Das vorhin im Gebirge war ein Meisterwurf. Der hat Erik ganz schön zu schaffen gemacht.“
Dietrich war erstaunt:
„Du warst das! Was hast du ihm den da an den Kopf geknallt!“
„Erinnerst du dich noch an den Knopf von der Gangschaltung, um den wir uns gestritten hatten? Der gehört jetzt Erik.“
Muck war begeistert:
„Ihr seid echt klasse. Wir haben auch vom Fenster aus zugeschaut, wie ihr den Knallkopf mit einem echten Geschosshagel eingedeckt und vertrieben habt. Ich glaube Max, du brauchst jetzt vor niemand mehr Angst zu haben. Du bist jetzt ein richtiger Indianer geworden: Häuptling Sichere Hand!“
Max tat ganz stolz. Seinen Bruder kam aber ein anderer Gedanke:
„Ihr habt uns beobachtet. Warum habt ihr uns nicht geholfen?“
„Ja, wir waren in der Nähe. Auch im Gebirge! Und wir hätten auch eingegriffen, wenn es schlimmer gelaufen wäre. Aber die beiden Brüder sollten uns möglichst nicht mit euch in Zusammenhang bringen können. Das wird noch sehr wichtig sein. Gerade für euch. In übrigen hattet ihr dort unten einen Helfer, der eingegriffen hätte, wäre Erik noch brutaler geworden. Das Ganze hat Ole alles nicht gepasst. Was meint ihr, warum er euch nicht auch verprügelt hat.“
„Du meinst wirklich, Ole hätte uns geholfen?“,
Dietrich war erstaunt.
„Ja, er hätte eingegriffen. So schlimm sind die Steinbrechers gar nicht. Erik ist eben ein Halbstarker. Der muss immer Ärger machen. Aber an diesen hier wird er ganz schön zu löffeln haben.“
„Wieso, was habt ihr denn in der Zwischenzeit gemacht?“,
fragte Dietrich nun neugierig.
Und er gab ihnen einen Bricht. Nachdem er die Holzbohle ausgelegt hatte, waren Erik und Ole schnell herbeigeeilt. Sie hatten die Bauer-Brüder zunächst sehr rüde angemacht. Aber diese ließen sich von den beiden Halbstarken nicht beeindrucken. Sie erzählten ihn, dass sie das Haus erkunden wollten und dabei von plötzlich im Haus auftauchenden Handwerkern überrascht wurden. Sie hätten gerade noch zu diesem Balkon fliehen können, wo ihre Bohle bereit lag.
Diese legten wir dann nach einem weiteren kleinen Wortwechsel wieder zurück in den Graben, damit die Arbeiter sie nicht entdecken konnten. Dann verschwanden Ali und Muck über das Gebirge. Die Rabauken blieben zurück, aber sie trauten sich nicht in das Haus. Ali und Muck eilten zu Herr Schmitz und berichteten ihm alles. Mit ihm haben sie auch das weitere Vorgehen besprochen.
„Wir wollen die beiden Diebe auf frischer Tat ertappen. Daher ist Herr Schmitz gleich außen rum zu den Arbeitern gelaufen und hat ihnen alles erklärt. Diese passen nun auf und werden die Steinbrecher-Brüder vom Haus verjagen, sobald sie wieder auftauchen. Wenn die dann weg sind, werden Sheriffs in das Gebäude einziehen und auf die Gauner warten. Denn jetzt ist ja das Versteck bekannt. Dann werden sie für alles zahlen müssen. Auch für das ausgebrannte Auto!“
„Habt ihr denn keine Angst, dass sie sich an euch rächen werden. Immerhin haben sie Herrn Schmitz Auto verbrannt, nur weil er die Polizei gerufen hatte.“,
fragte der große Müllerjunge erstaunt.
„Wovor sollen wir denn Angst haben. Die Steinbrechers werden die Falle, in der sie hinein tappen nicht mit uns in Verbindung bringen können. Die sind einfach zu dumm, um zu begreifen, dass wir nicht mehr wie kleine Kinder durch einen Neubau streifen. Vielleicht glauben sie sogar, dass wir heimlich rauchen oder trinken wollten.
Nein sie werden glauben, die Arbeiter haben die Polizei gerufen, weil die beiden so auffällig um das Haus herumgelungert sind. Auf andere Gedanken kommen die doch einfach gar nicht.
Wichtig ist, dass sie euch nie am Haus gesehen haben. Damit seid ihr völlig aus dem Schneider.“
Sie erzählten Ali und Muck noch alles haarklein, was ihnen nach Trennung der von ihnen widerfahren war. Dietrich hatte gerade seinen Bericht beendet, da ertönte ein Ruf aus der Richtung seines Hauses.
„Dietrich, Max, kommt rein zum Abendessen.“
„Ja, wir kommen!“,
rief Dietrich zurück.
„Wir müssen leider rein. Sagt uns wie es ausgegangen ist!“
„Es wird alles genauso geschehen, wie wir es euch prophezeit haben. Ganz bestimmt! Macht´s gut!“
„Ja, macht´s gut!“
Muck wird wohl recht behalten, dachten sich die beiden neuen Helden. Schnell eilten sie die Straße hinauf, zum nächsten Häuserblock. Im Hof war noch immer niemand zu sehen.
„Sie sind wohl immer noch im Schwimmbad.“,
mutmaßte der Ältere.
„Ja, aber morgen werden sie wieder da sein.“,
gab Max zur Antwort,
„Und dann können wir ihnen was erzählen.“
Sie schellten an der Tür. Während sie auf den Türsummer warteten, ging im Haus gegenüber, ein Fenster auf. Erik stand da, in voller Größe. Mit einem dicken Verband an seinem Kopf. Wütend rief er ihnen zu:
„Ich werde euch schon noch kriegen! Verlasst euch drauf!“.
Und schon schloss er das Fenster wieder.
Wieder wurde Dietrich flau im Magen. Dieses Mal war es Max der die richtigen Worte fand:
„Wenn wir ihn jetzt am Fenster stehen sehen konnten, hat es mit dem Plan von Ali und Muck geklappt. Sie sind vom Haus verjagt worden. Nun werden sie später wieder dorthin gehen. Man wird sie erwarten. Danach wird Erik andere Probleme haben, als uns zu jagen. Außerdem werden uns unsere Freunde vor dem Haus beschützen.“
Der Summer ertönte und sie konnten ins Haus hinein gehen. Im Moment war das der sicherste Ort auf der Welt für sie.
Später saßen die beiden Brüder beim Abendessen. Da fiel Dietrich etwas siedend heiß ein:
„Du Max, wenn Erik erkannt hätte, was du ihn da an den Kopf geworfen hattest, hätte er uns im Auto gefunden. Wir hatten also noch einmal ganz schön Glück gehabt.“
„Na und! Wir sind doch jetzt Indianer. Wir haben keine Angst mehr!“
Mutti horchte auf:
„Du bist also ein Indianer?“
„Ja, ich bin heute ein Indianer geworden!“
„Du bist heute ein Indianer geworden? Das musst du mir erzählen!“
Max druckst herum. Dietrich saß der Schrecken in der Hose. Jetzt würde er alles ausplaudern. Und Mutti war der letzte Mensch, der von ihrem Abenteuer erfahren sollte. Max setzte mit dem Reden an. Dietrich wollte ihn an das Schienbein treten, verfehlte es aber.
„Weißt du Mutti, wenn ich dir das erzählen würde, würde ich dir ja von meinen Heldentaten erzählen. Und das würde ja so aussehen, als wenn ich angeben würde. Und du verstehst doch sicher: Das tut ein Indianer nicht.“
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