Es begab sich zu einer Zeit, in der Zeit für mich noch keine Rolle spielte. Ich werde wohl fünf Jahre alt gewesen sein, denn es war im Jahr vor meiner Einschulung. Die Begegnung, von der ich erzählen möchte, könnte eine Woche gedauert haben, einen Monat oder ein ganzes Jahr. In meinen Erinnerungen steht die Zeit einfach nicht mehr geschrieben. Aber ich erinnere mich an die Hitze eines Sommers. Meine Tage verliefen ruhig und entspannt. Einer wie der Andere. Dann traf ich sie: „Gela und Ina“.
Nun ist es sicher ungewöhnlich, von einer Person zu reden, aber zwei Namen zu nennen. Es waren zwei Schwestern. In meinem Alter. Sie wohnten im benachbarten Häuserblock unserer Siedlung. In meinen Erinnerungen gehören sie untrennbar zusammen. Es gibt keine Erinnerungen an die Eine ohne die Andere. Überhaupt gibt es keine personellen Erinnerungen an sie. Ich kann nicht sagen, das hatte Gela getan und jenes Ina. Es gabt sie eben nur als „Gela und Ina“. Mit ihnen erlebte ich eine Zeit voller friedlicher Harmonie und sonderbarer Vertrautheit. Nie gab es einen, noch so kleinen Streit. Nie ein böses Wort. Und nie wurde es uns langweilig. Es lag einfach ein herrlicher Zauber über dieser Begegnung.
So machten wir uns auf in die Wildnis, kauerten vor einem großen Gebüsch verschiedener Blumen und Pflanzen, entdeckten die Welt der kleinen Tiere. Da gab es die roten Käfer mit den schwarzen Punkten, die schwarzen Käfer mit den roten Punkten, und die Käfer mit dem schillernden Panzer. Es gab die fleißigen Bienen, die ihren Nektar sammelten und die dicken Hummeln, die die Blumen nach unten bogen, wenn sie sich darauf niederließen. Am Aufregendsten fanden wir die große grüne Raupe mit ihren vielen Beinen. Auch wenn wir uns vor ihr ein wenig gruselten. Jedes Mal, wenn jemand von uns etwas Neues entdeckte rief er oder sie: „Ich habe hier noch etwas Neues“. Und gemeinsam bestaunten wir sogleich einen weiteren Teil der Natur.
Aber wir waren nicht nur Forscher, wir konnten auch feiern. So tanzten wir einmal Ringelreihen: rechts herum, links herum. Jeder konnte das Kommando geben und die anderen machten mit. Es wurde immer wilder. Die Richtungsänderungen kamen immer schneller. Wir zerrten aneinander, wir stolperten miteinander und am Ende purzelten wir alle, mit einem fröhlichen Lachen, übereinander. Anschließend begannen wir, ganz langsam, wieder von vorne.
Nach so viel Bewegung brauchten wir ab und an eine Pause. So gingen wir eines Tages zu „Gela und Ina“ heim, die bei ihrer Oma wohnten. Sie war nicht zu Hause. Es war ein heißer Sommertag. Überall in ihrer Wohnung hatte die Großmutter die Rollläden heruntergelassen, wohl um die Behausung kühl zu halten. Eine solch dunkle Bleibe kannte ich von vorher überhaupt nicht. So gingen wir in dieses unheimlich düstere, aber tatsächlich sehr kühle Loch hinein. Ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Dort stand auf dem Tisch ein riesiges Glas mit saftig dicken Gewürzgurken. Auch diese Speise war mir bisher gänzliche unbekannt geblieben. Aber Gela und Ina nahmen sich je eines dieser sauren Gebilde und bissen herzhaft lachend hinein. Da blieb ich natürlich nicht hinten an. So genoss ich in dieser munteren Gesellschaft meine erste saure Gurke und fand es wunderbar.
Ein anderes Mal gingen wir auf Entdeckungsreise. Dieses Mal erkundeten wir die untere Gegend unserer im Bau befindlichen Siedlung. So stießen wir auf eine Stelle, an der die Bauarbeiter ihre leeren Farbtöpfe entsorgt hatten. Ein buntes Gemenge aller Farben: Rot, Grün, Gelb, Braun, sehr viel Weiß und Schwarz. Nun merkten wir sofort, wie unsere künstlerische Ader in uns erwachte. Mit kleinen Holzstöckchen und Pflanzenfasern bemalten wir alle Steine und kleine Holztäfelchen, die wir in der Nähe finden konnten.
Unsere Schaffensphase dauerte sicher über eine Stunde. Die Begeisterung war riesengroß. Aber irgendwann erinnerten wir uns daran, dass wir zum Essen heimgehen mussten. So unterbrachen wir unser Tun und gingen nach Hause. Nun kann man sich sicher vorstellen, dass unsere handwerklichen Fähigkeiten bei Weitem noch nicht so richtig ausgebildete waren. Es wird daher jedem klar sein, wie wir aussahen. Aber das Zauberhafte dieser Beziehung übertrug sich wohl auch auf die Erwachsenen. Sicher, es gab ein wenig Ärger, aber ich glaube sie waren eher sehr belustigt über das Aussehen von uns jungen Künstlern, als darüber verärgert, dass sie nun einen gesonderten Waschtag einlegen mussten.
Es gäbe sicher noch vieles Weitere zu erzählen. Ob wir ein Rhabarberbeet am Altenheim plünderten, Bauarbeitern mit Rat und Tat zur Seite standen, oder so manches Andere anstellten, wir eroberten gemeinsam die Welt für uns. Aber der Sommer ging zu Ende. Erinnerungen an Winter mit „Gela und Ina“ habe ich nicht. Dann sollte ich eingeschult werden. Da wir damals als Abc-Schützen zu Ostern zur Schule geschickt wurden, muss dies im anschließenden Frühjahr gewesen sein.
In jeden Fall war ich mit meiner Mutter in der Frankfurter Innenstadt auf der Zeil. Diese war damals noch eine stark befahrene Straße, in deren Mitte die Straßenbahn fuhr. Wir kauften die nötigen Schulsachen. Einen Ranzen, ein Mäppchen, Stifte, Hefte und alles was man eben brauchte. Das war eine anstrengende Sache. So saßen meine Mutter und ich am Ende des Einkaufs im Restaurant eines der Kaufhäuser und genossen eine Erfrischung. Plötzlich sah ich auf. Wer saß da zwei Tische weiter? „Gela und Ina“ mit ihrer Oma. Wir setzten uns natürlich gleich zusammen. Und so erzählten sie, dass auch sie Schulsachen eingekauft hätte.
„Ihr werdet mit mir zusammen eingeschult!“, rief ich begeistert aus. „Vielleicht kommen wir ja in die gleiche Klasse. Das wäre ja richtig spitze“.
„Nein! – Lieber Ted. Gela und Ina lebten nur eine kurze Zeit zur Pflege bei mir. Morgen müssen sie wieder zurück und gehen dann woanders in die Schule“, klärte mich ihre Großmutter auf. So kam es dann auch und ich war sehr traurig.
Einige Zeit Später, es mögen ein paar Jahre gewesen sein, kam plötzlich mein Bruder zu mir ins Zimmer gestürmt und berichtete aufgeregt: „Du, Ted, da draußen sind Gela und Ina“. Was immer ich gerade gemacht hatte, im nächsten Augenblick war ich im Freien. Und tatsächlich, da standen sie vor mir. Es wurde noch einmal ein wunderschöner Nachmittag, mit der gleichen Harmonie und Vertrautheit. Ich zeigte ihnen, wie man im Sandkasten Burgen baute, oder Straßen und Brücken konstruierte. Anschließend half ich den Mädchen mit Eimerchen, Schippchen und Förmchen beim Backen der herrlichsten Sandkuchen, die wir dann natürlich auch gemeinsam verspeisten. Hamm!
Ich werde sie wohl gefragt haben, wo sie nun lebte, aber da ich mit den Ortsnamen nichts anfangen konnte, habe ich sie sicher gleich vergessen. Am nächsten Tag fuhr sie zurück. Danach habe ich sie nie wieder gesehen, meine „Gela und Ina“.
Es bleibt mir der Zauber dieser Tage und eine wunderschöne, sehnsuchtsvolle Erinnerung.
Hintergrund der Geschichte:
Autobiographischer Schreibkurs. Meine erste große Liebe. „Gela und Ina“ wo bist Du?
3 Seiten